© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/18 / 12. Oktober 2018

Viele konzeptlose Blindflüge
Im Oktober 1918 zerfiel der Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn und brachte Europa zusätzlich aus dem Gleichgewicht
Lothar Höbelt

Otto Bauer, der führende Kopf der österreichischen Sozialdemokratie, hat seinen Rechenschaftsbericht über den Umsturz von 1918 und die Gründung der Republik schon wenige Jahre später unter dem Titel „Die Österreichische Revolution“ veröffentlicht. Das Buch ist ein Vergnügen zu lesen, zwar in strikt marxistischer Diktion gehalten, doch frei von schamhaften Euphemismen und politisch korrekten Verrenkungen. Wie viele Bücher bekannter Autoren, wurde es öfter zitiert als gelesen. Bauer schrieb seinen Genossen nämlich ausdrücklich ins Stammbuch: Es sei ein Irrtum zu glauben, daß der Umsturz von 1918 ihre Revolution gewesen sei. Es habe sich vielmehr um eine „bürgerliche Revolution“ gehandelt, die Revolution der nichtdeutschen Bourgeoisie der Habsburgermonarchie, die sich vom alten Reich lossagte – und auch diese Revolution sei bloß ermöglicht worden durch den sich abzeichnenden Sieg der Entente-Armeen.

Otto Bauer hat recht: Die Habsburgermonarchie als multinationaler „Anachronismus“ war für den Fall einer großen Niederlage immer schon vom Zerfall bedroht; aber sie wäre ohne diese Niederlage nicht zerfallen. Der Erste Weltkrieg läßt sich vom Standpunkt der Habsburger auf einen einfachen Nenner bringen. Ihr großer Bruder, der neureiche Verbündete in Berlin, hatte sie zuerst gerettet und zwei Jahre lang davor bewahrt, von Russen und Italienern, Serben und Rumänen überrannt zu werden. Dann aber, um die Jahreswende 1916/17, hatte die fatale Entscheidung für den „uneingeschränkten U-Boot-Krieg“ die Monarchie in einen Krieg mit den USA verwickelt, der – wie sich herausstellte – nicht zu gewinnen war. Freilich: Nachher weiß man immer alles besser. Aber was die Technikgläubigkeit der U-Boot-Fans betrifft, hatten die konservativen Österreicher damals schon den besseren Riecher.

Nur das Militär hielt noch die Monarchie zusammen

Die Russische Revolution und der Kollaps des Zarenreiches führten zwar noch einmal zu einem Zwischenhoch. Im Frühjahr 1918, als Lenin kapitulierte und die deutschen Armeen ein zweites Mal kurz vor Paris standen, bemühten sich auch hartgesottene Oppositionelle angelegentlich um Kontakte zu den kaiserlichen Ministern. Doch ab der Sommersonnenwende 1918 ging es bergab: Die Österreicher lieferten selbst das Stichwort dafür, als ihre Offensive über den Piave Mitte Juni scheiterte. Die Ernährungskrise – Resultat der gegnerischen Blockade wie der kontraproduktiven Kommandowirtschaft im Innern – und der zunehmende Verschleiß des Eisenbahnsystems taten ein übriges. 

Die Zeichen an der Wand waren nicht mehr zu übersehen. Allgemein rechnete man mit einem Kriegsende 1919. Der Zusammenbruch Bulgariens im September 1918 verkürzte die Galgenfrist zur allgemeinen Überraschung dann noch um ein paar Monate. Die Italiener improvisierten noch rasch vor Wintereinbruch eine Offensive: Schottische Highlander, von venezianischen Gondoliere gerudert, überschritten Ende Oktober als erste den Piave, am 3. November kapitulierte die k. u. k. Armee.

Der Zusammenhalt der Habsburgermonarchie beruhte auf der normativen Kraft des Faktischen. Im stillen Kämmerlein mochten überspannte Intellektuelle da und dort von der Gründung eigener Nationalstaaten träumen, doch solange die Armee intakt war, waren derlei Phantasien gegenstandslos. Ein tschechischer Politiker brachte es vor der Jahrhundertwende auf den Punkt, es reize ihn zwar schon, einmal der erste russische Gouverneur von Böhmen zu werden, doch inzwischen seien zwanzig tschechische Millionäre ein größerer Gewinn für die gute Sache als die schönsten Sprachenverordnungen. Die Polen gaben die Hoffnung auf ein Wiedererstehen ihrer alten „Rzeszpospolita“ natürlich nicht auf und begrüßten den Krieg der Teilungsmächte als eine Chance, auf die sie hundert Jahre lang gewartet hatten. Aber solange sich nichts Besseres ergab, war das österreichische Galizien zweifellos die komfortabelste Baracke im geteilten Polen. Sogar bei Deutschen und Ungarn gab es vereinzelte Alldeutsche und Unabhängige, die mit dem Zerfall der Monarchie liebäugelten, romantische Spinner, die niemand so recht ernst nahm.

Sobald der Krieg losging, verschärften sich die nationalen Spannungen: Vor 1914 war Politik ein Elitensport gewesen, jetzt ging es dabei um existentielle Fragen, Einberufungen oder Freistellungen, Hungerrationen oder Schwarzmarkt. Vor allem aber: Von der Marneschlacht 1914 bis zur Marneschlacht 1918 konnte sich niemand sicher sein, wie der Krieg denn letztendlich ausgehen würde. 

Was man in dieser Situation benötigte, so formulierte es der Chef der tschechischen Agrarpartei, Antonin Svehla, klassisch, war „eine Politik der zwei Eisen im Feuer“. Sprich: Die Tschechen mußten für jeden nur möglichen Ausgang des Krieges gerüstet sein. Nicht bloß jede Nation, ja fast jede Partei legte sich deshalb im Laufe des Krieges zwei Führungsgarnituren zu, eine für den Fall des Sieges der einen, eine für den Fall des Sieges der anderen Seite. 

Das „Völkermanifest“ wurde von Ereignissen überholt

US-Präsident Woodrow Wilson warf dann im Januar 1918 das Prinzip der Selbstbestimmung der Völker in die Debatte. Oder zumindest wollte man es nachher so verstanden haben. Denn eigentlich waren Wilsons 14 Punkte bloß eine Replik auf vorherige Forderungen der Sowjets, die ähnliches schon vor den Verhandlungen von Brest-Litowsk verkündet hatten. Von unabhängigen Nationalstaaten war in den 14 Punkten keine Rede – mit Ausnahme Polens, aber das hatten die Mittelmächte längst vorweggenommen. Es ging sehr unverbindlich nur um die freiest mögliche autonome Entwicklung der Nationalitäten der Monarchie. Als die Briten dann im Sommer das tschechoslowakische Nationalkomitee unter Tomáš Masaryk zumindest als kriegführende Macht anerkannten, scherzte Wilsons Außenminister Robert Lansing: Wäre er Österreicher, würde er jetzt mit der Anerkennung der Unabhängigkeit von Irland, Ägypten und Indien kontern.

All diese Völker bedurften keiner Anregungen von außen, die Iren genausowenig wie die Tschechen. Sobald sich die realistische Möglichkeit dazu ergab, riefen sie ihren eigenen Nationalstaat aus. Dieser Zeitpunkt war gekommen, sobald die k.u.k. Armee vor dem Aus stand. Kaiser Karl konnte nur noch versuchen, diesen Prozeß in evolutionäre Bahnen zu lenken, in eine Art von österreichischer Friedenskonferenz unter Vorsitz der Krone. Dieses sogenannte „Völkermanifest“ vom 16. Oktober 1918 erlaubte die Gründung von „Nationalräten“ aus den Abgeordneten, die lange vor Kriegsausbruch in den Reichsrat gewählt worden waren. Diese Nationalräte wurden zu den Gründervätern der „Nachfolgestaaten“. 

Allerdings wurde aus der Friedenskonferenz unter allerhöchstem Vorsitz nichts. Die Tschechen, die Südslawen und die Rumänen fühlten sich als Sieger und wollten mit den Deutschen und Ungarn nicht mehr verhandeln. Zum Zankapfel entwickelte sich insbesondere das Sudetenland, die drei Millionen Deutschen in den böhmischen Ländern, die von Prag für die neue Tschechoslowakei beansprucht wurden. 

Karl Renner, der „Lueger der Sozialdemokratie“, der von den verängstigten Bürgerlichen als Staatskanzler Deutsch-österreichs akzeptiert wurde und so den sozialistischen Wahlsieg von 1919 vorwegnahm, sprach bei der Gründung des Staates Deutsch-Österreich am 30. Oktober durchaus noch davon, auf einer Ebene darüber könnten die alten Gemeinsamkeiten mit den Nachbarländern vielleicht weitergeführt werden. Voraussetzung dafür sei eben die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts, das für alle gleichermaßen gelten müsse. 

Eine Woche später erklärte ihm Josef Seliger, der Führer der deutschböhmischen Sozialdemokraten, mit den Tschechen sei darüber einfach nicht zu reden. Die letzte und einzige Chance, das Sudetenland vielleicht doch noch zu retten, sei der Anschluß an das Deutsche Reich. In Berlin aber wurde tags darauf die Republik ausgerufen. So erklärte sich auch Deutsch-Österreich am 11./12. November pflichtschuldigst zur Republik und gleichzeitig zum Bestandteil des Deutschen Reiches. 

Die „österreichische Revolution“ war eine Revolution im Sinne eines Bruches der Rechtskontinuität. Der landläufigsten Form der Revolution, der Heugabel-Variante, wie Renner es ausdrückte, versuchte das Bürgertum, das sich plötzlich des Schutzes der kaiserlichen Exekutive beraubt sah, durch eilfertige Konzessionen an die Sozialdemokratie zuvorzukommen, die im Gegenzug dafür sorgte, daß die Kommunisten in Österreich über den Status einer einflußlosen Sekte nie hinaus gerieten. Der Kaiser wurde von niemandem abgesetzt, denn niemand konnte oder wollte für ganz Österreich sprechen, alle sich nur von Österreich loslösen und verabschieden. 

St. Germain und Trianon regelten nur Grenzfragen

In Ungarn war das anders: Es blieb nach einem revolutionären Intermezzo zumindest formell eine Monarchie, wenn auch vorerst ohne König. Der Kaiser hoffte auf eine ähnliche Lösung auch in Österreich: Man müsse warten, bis die revolutionäre Flut vorbei sei. Inzwischen verzichtete er vorläufig auf jeden Anteil an den Regierungsgeschäften. Karl Renner würdigte diesen Entschluß, wenn er ausführte, man verzichte ja bloß auf eine Staatsform, „die von ihren Trägern selbst zur Zeit als unhaltbar empfunden wird“. Zur Zeit – das konnte sich ja auch wieder ändern.

Der Beitrag der Entente zum Zerfall der Monarchie war ihr militärischer Sieg. Die Verträge von St. Germain und Trianon hatten damit nur mehr wenig zu tun. Sie legten die Grenzen zwischen den Nachfolgestaaten fest. Dabei konnten Fehler passieren; aber am grundlegenden Faktum war nicht mehr zu rütteln. Es gab in Paris wie in London durchaus Diplomaten, die eine Fortführung der Habsburgermonarchie in Form einer Donaukonföderation gerne gesehen hätten. Doch es wäre völlig unmöglich gewesen, den Nachfolgestaaten des europäischen Gleichgewichts oder der Investmentchancen zuliebe eine Fortsetzung der alten Gemeinsamkeiten zu befehlen. „Entösterreicherung“ war Trumpf. Die „Großen Drei“ in Paris, Georges Clemenceau, David Lloyd George und Wilson, waren nicht so allmächtig, wie sie taten, bloß zu eitel, um es zuzugeben und wurden deshalb bald als Sündenböcke gehandelt. 

Was das europäische Gleichgewicht anbelangt, so gebührt das letzte Wort Karel Kramar, dem ersten tschechoslowakischen Ministerpräsidenten, der seine französischen Freunde warnte: Es wäre eine Illusion zu glauben, sie hätten den Krieg gewonnen, solange sie nicht das Zarenreich wiederhergestellt hätten, denn ohne russische Verbündete könnten sie Deutschland nie in Schach halten. Quod erat demonstrandum.