© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/18 / 12. Oktober 2018

Die entkulturalisierte Schule
Josef Kraus, der langjährige Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, beklagt in deutlicher Sprache den seit 1968 andauernden Erziehungs- und Bildungsverfall
Nicolaus Fest

Mein Vater begleitete mich zweimal zur Schule: bei der Einschulung und später, 1978, in der achten Gymnasialklasse, zu einem Tag der offenen Tür. Meine Schulnoten waren zu jener Zeit beklagenwürdig, die Versetzung war gefährdet. Ich erklärte das mit der Doofheit der Lehrer, er mit meinem exzessiven Hang zum Sport. Nun wollte er sich selbst ein Bild machen; ruhig schlafen ließ mich das nicht. 

Wortlos verfolgte mein Vater mehrere Unterrichtsstunden, darunter auch Gemeinschafts- und Erdkunde. Dort ging es, unter Leitung einer jungen Lehrerin, um Herrschaftsstrukturen, Gerechtigkeitslücken und Pazifismus, in Geographie um die Ausplünderung der Kolonien und das Apartheidregime Südafrikas. Zu Hause meinte mein Vater: „In Englisch und Geographie muß man keine 5 haben. Solange du dich dort nicht deutlich verbesserst – kein Sport. Wenn du in Gemeinschaftskunde eine 5 nach Hause bringst, stört es mich nicht. Nur keine 6!“ Mehr sagte er nicht. Ich atmete auf. In zwei Wochen wäre ich wieder auf dem Sportplatz. 

Was ich in der Praxis erlebte, beschreibt Josef Kraus in einem Kapitel des hier angezeigten Buches: wie die Schule in die Fänge linker Reformpädagogen kam – und damit auf den Hund. Wie Wissen durch Gelaber ersetzt wurde, Kenntnis durch Moral und Lernen durch Teamarbeiten. Wie Lehrer Pünktlichkeit, Anstand, Höflichkeit kleinredeten – und Auflehnung und Selbstverwirklichung groß. Wie die Schule entkulturalisiert wurde und die Schüler zu historischen Analphabeten. 

Es ist ein kluges, außerordentlich lesenswertes Buch – oder richtiger: ein langer Aufsatz von 180 Seiten. Aber genau das ist seine Stärke. Lang kann jeder. Hier ist jedes Kapitel auf das Wesentliche reduziert. Aus welchen trüben Quellen die 68er ihre Gewißheiten nahmen und wie fragwürdig ihre Behauptung ist, sie hätten die Bundesrepublik modernisiert; über den unseligen Einfluß der Frankfurter Schule, der Behavioristen und all jener, die Familie, Justiz, Schule und Professoren unter „Faschismusverdacht“ stellten; über den Selbsthaß der Deutschen und die tatsächlich rassistische These, der Nationalsozialismus sei genetisch vorgegeben, so als laufe eine Vererbungslinie von Hermann dem Cheruskser über Luther, Friedrich den Großen und Bismarck zu Hitler; über Gender und Islamisierung, über die Entspiritualisierung der Kirchen, die Sexualisierung des Schulunterrichts, das Ideal der Patchworkfamilie und den linken Antisemitismus. Über den Unsinn der völlig gescheiterten Gesamtschule und den neuen Stuß der Inklusion. Und über die größte Gefahr für Demokratie und offene Gesellschaft: die politische Korrektheit und Tabuisierung der offenen Debatte. 

Es ist ein Buch, das jeder lesen sollte  und das jeder lesen kann. Denn es ist ein Buch in gutem, klarem Deutsch: einfache Sätze, kaum Fremdwörter, kein Soziologengerede. Auch das ist heute eine Seltenheit. Kurz können nicht viele, einfach können noch weniger. Das aber ist hohe Kunst. Josef Kraus kann in drei Sätzen sagen, warum Gender ein Irrweg ist und Chancengleichheit in der Bildung eine Illusion; wo Islam und Grundgesetz, entgegen allen Beteuerungen, nicht zusammengehen; warum Gerechtigkeit das „trojanische Pferd des Totalitarismus“ ist und „Dekadenz“ ein Begriff, den man neu beleben sollte; und warum gute Erziehung auch immer mit Zwang zu tun hat. In den Worten des großen Spötters Dávila: „Erziehung bedeutet, die Menschen an der freien Entfaltung ihrer Persönlichkeit zu hindern.“

Nur zwei Dinge gibt es zu beanstanden. Daß der Islam die Sklaverei erfunden habe, behauptet der zitierte Egon Flaig keineswegs; Sklaverei gab es schon weit vor Gründung des Islam. Aber die Koppelung von Sklaverei und Hautfarbe, also die Erfindung des Rassismus, ist tatsächlich eine Errungenschaft dieser Religion des Friedens. 

Und dann bleibt eine Frage offen: warum die Deutschen so seltsam lemminghaft sind, warum sie entgegen aller Beteuerung ihres Individualismus keinen Mut zur eigenen Meinung haben, warum also immer noch viele, trotz aller sichtbaren Defizite im Bildungswesen, in der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit, in der Organisation des Staates und auch in Sachen Lebensfreude, den linken Einflüsterungen Glauben schenken. Woher also kommt der Hang zu Uniformität, Spaßverzicht und dem veganen Pfarrhaus-Muff, gegen den jeder Talar wie eine frische Brise wirken würde? Und warum sind die Medien so quälend linientreu? 

Mein Vater hatte darauf eine Antwort, die eher der Hoffnung entsprang, daß sie sich nicht bewahrheite. Alle fünfzig Jahre seit Gründung des Deutschen Reiches, so meinte er, spielten die Deutschen verrückt, vor allem die jüngere Generation. Dann wolle sie Revolution, Umsturz, die Verhältnisse zum Tanzen bringen, ein Ende der bürgerlichen Sicherheit. Das sei 1918 gewesen, dann 1968. Nun sind wieder fünfzig Jahre vorbei. Und die Verhältnisse beginnen erneut zu tanzen, verkleidet als Willkommenskultur. Aber auch die könnte, wie schon früher, ein Totentanz sein. 

Josef Kraus: 50 Jahre Umerziehung. Die 68er und ihre Hinterlassenschaften. Manuscriptum Verlag, Waltrop 2018, broschiert, 190 Seiten, 19,90 Euro