© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/18 / 12. Oktober 2018

Unvereinbare Narrative
Zwischen Putins Machtpolitik und den Moral-ansprüchen des Westens: Wolfgang Ischinger sorgt sich um Europas fragile Sicherheitsarchitektur
Thomas Fasbender

Wenn es um diplomatisches Geschick, Geschichtswissen, Meinungsstärke und ein Gespür für Menschen und Situationen geht, macht dem deutschen Diplomaten Wolfgang Ischinger so leicht keiner etwas vor. Nach einer Botschafterkarriere in Wa-shington und London, zuvor noch als beamteter Staatssekretär im Auswärtigen Amt unter Joschka Fischer, leitet er seit zehn Jahren die Münchner Sicherheitskonferenz, den international wichtigsten Branchentreff der Militärs, Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitiker. So einer hat den Marschallstab schon in jungen Jahren im Tornister gehabt. 

Als Summe seiner Erfahrungen, Ratschläge und Prognosen legt er jetzt das Buch „Welt in Gefahr. Deutschland und Europa in unsicheren Zeiten“ vor. Auch wenn Ischinger sich ausnahmslos, seinem Berufsbild treu, im Rahmen des diplomatisch Sagbaren bewegt, enthält es Einblicke, zu denen der Zeitungsleser und TV-Zuschauer ansonsten keinen Zugang hat. Und er bietet weit mehr als Anekdoten und gelegentlich erhellende Zitate. Auf fast 300 Seiten verbindet der Autor historische, analytische und programmatische Elemente im Umfeld der deutschen auswärtigen Politik.

Zu Ischingers Glaubenssätzen gehört: miteinander reden, reden, reden. Allerdings, das wird rasch klar, nicht nach dem Mund des Gegenübers. Dazu gesellt sich ein bodenständiger Realismus, der die Grenzen der diplomatischen und auch der politischen Möglichkeiten anerkennt und gelten läßt. „Regime Change“, also die Hoffnung, einen schlechten Herrscher durch einen besseren zu ersetzen, ist nicht nach seinem Geschmack. Zu oft in der Vergangenheit war der gute Nachfolger bald ebenso schlecht wie sein Vorgänger. So distanziert Ischinger sich vom westlichen Vorgehen im Irak 2003 und in Libyen 2011; auch die Forderung nach dem Abgang des syrischen Herrschers Baschar al-Assad macht er sich nicht zu eigen.

Die Präferenz des Dialogs vor Sanktion oder Konfrontation geht bei ihm so weit, daß er zum Befürworter der Korea-Diplomatie des US-Präsidenten Donald Trump wird – dem er im übrigen mit der maximal erlaubten Distanz des Diplomaten begegnet. Auch dem russischen Präsidenten Wladimir Putin gegenüber, einem weiteren Störenfried der internationalen Ordnung, hätte er auf kreativen Dialog statt auf Strafmaßnahmen gesetzt. Entsprechend lautete Ischingers Vorschlag, den G8-Gipfel im russischen Sotschi 2014 nicht abzusagen, sondern mit einer ausschließlich auf die Krim konzentrierten Tagesordnung durchzuführen. Er hat sich damit nicht durchgesetzt; nicht ausgeschlossen, daß die Krise bei Aufrechterhaltung der Kommunikation einen anderen Verlauf genommen hätte.

Gesprächsverweigerungen, Sanktionen und Militäreinsätze sind Eskalationen, die den Diplomaten schrittweise entmachten. Jede verlorene Dialogplattform ist ein Verlust. Vehement verteidigt Ischinger die multilateralen Formate, ob G8, G20, die Vereinten Nationen oder andere. Und immer wieder scheint durch: Nur die Begegnung schafft Vertrauen, nur das Gespräch schafft Verständnis. Und Vertrauen und Verständnis sind der Schlüssel für Frieden und Stabilität.

Da überrascht es geradezu, daß der Menschenkenner und diplomatische Taktiker die Verschiebungen der globalen Sicherheitsarchitektur am Beginn des 21. Jahrhunderts nicht zu erkennen scheint. Gefangen im westlichen Narrativ schildert er das westlich-russische Verhältnis vor der Ukraine-Krise und seitdem. Kein Wort dazu, in welchem Ausmaß das Festhalten an der Nato und erst recht deren Osterweiterung den westlich-sowjetischen Antagonismus als westlich-russischen fortgeschrieben hat. Kein Wort zur Verantwortung der Außenminister Deutschlands, Frankreichs und Polens für das Stillhalteabkommen zwischen dem ukrainischen Präsidenten und der Euromaidan-Opposition in der Putschnacht vom 21. Februar 2014. Stattdessen präsentiert er eine Liste von sechs internationalen Abkommen, begonnen mit der KSZE-Schlußakte, die Rußland mit seinem Vorgehen in der Krim und der Ost-ukraine gebrochen hat.

Alles richtig aus westlicher Sicht. Wer die russische Sicht kennt, weiß aber, daß dort ein nicht minder schlüssiges Narrativ existiert. Ischinger leugnet nicht, daß ihm das andere Narrativ geläufig ist. Auch nicht, daß beide in letzter Konsequenz gänzlich unvereinbar sind. Was er aber unterläßt: Er denkt die Sache nicht zu Ende. Vor der logischen Schlußfolgerung, daß die gesamte eurasische Sicherheitsarchitektur einer Runderneuerung bedarf, schreckt er zurück. Stattdessen warnt er vor „einfachen Antworten auf komplizierte Fragen“ – der Standardvorwurf gegenüber populistischen Politikern, die hier aber gar keine Rolle spielen. Stur beharrt er auf der Geltung der europäischen Sicherheits- und Friedensordnung der neunziger Jahre – wohl wissend, daß diese Ordnung in Moskau spätestens seit der Bombardierung Serbiens 1999 als Fiktion angesehen wird. Vertritt er damit eine weniger revisionistische Außenpolitik als jene, die er Putin und dem Kreml vorwirft? Ist es am Ende vielleicht Ischinger selbst, der viel zu einfache Antworten auf eine komplizierte Frage gibt?

Wolfgang Ischinger: Welt in Gefahr. Deutschland und Europa in unsicheren Zeiten. Econ Verlag, Berlin 2018, gebunden, 304 Seiten, 24 Euro