© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/18 / 19. Oktober 2018

Verachtung ist kein guter Ratgeber
Öffentliche Debatten: Entwürdigung hilft in politischen Auseinandersetzungen nicht weiter
Richard Stoltz

Ein Wort hat zur Zeit Konjunktur: die Verachtung. „Ich hasse ihn nicht, ich verachte ihn nur“, hört man immer öfter. Verachtung wird dabei meistens als eine im Vergleich zum Haß maßvollere Form des unfreundlichen Umgangs miteinander verstanden. Aber stimmt das denn? 

In der anspruchsvollen Literatur der Moderne, von Honoré de Balzac bis Bert Brecht, geht es genau andersherum. Haß wird dort als eine zwar leidenschaftlich widersprechende, aber doch dem Gesprächspartner voll zugewandte Art der Kommunikation dargestellt; bei der Verachtung hingegen regiert die totale Abwendung. Und das sei gut so. 

Der Verachtende degradiert sein Gegenüber gewissermaßen vom Subjekt, das immerhin noch der Ansprache würdig ist, zum völlig gefühls- und gedankenlosen, allenfalls noch übel vor sich hinriechenden Objekt, das im Grunde kein Wort mehr verdient, selbst das schärfstens ablehnende nicht. Verachtung Ausdrückende erscheinen folgerichtig in den Werken von Balzac nicht als sprechende, sondern lediglich als Gebärden vorzeigende.

Wie man sie am besten beschreibt, war denn auch ein Hauptgegenstand der Literaturkritik während der Belle Époque. In Deutschland beschäftigte sich vor allem der Schriftsteller Ernst Wiechert (1887–1950) mit der Erfindung von Figuren, die scharfe Gegner des jeweils herrschenden Zeitgeistes waren und ihre Gegnerschaft mit unvergeßlich eindrücklichen verächtlichen Gesten ausdrückten; man denke an den legendären Roman „Die Majorin“ oder an den Erzählband „Die Todeskandidaten“, beide erschienen 1934.

Trotzdem und bei allem Respekt vor energischen Verächtern in der großen Literatur: Ein probates Mittel für die notwendigen politischen Auseinandersetzungen der Gegenwart liefern sie nicht. Wer allfällige Veränderungen anstrebt, der darf sich nicht abwenden, auch im stolzen Gestus der Verachtung nicht.