© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/18 / 19. Oktober 2018

Beschwörung der verschwindenden Welt
Das Vergangene überwölbt die Gegenwart: Bernd Wagners Roman „Die Sintflut in Sachsen“ spiegelt auch einen Teil deutscher Geschichte
Sebastian Hennig

Damit ein Buch Wirkung entfalten kann, muß dessen Zeit gekommen sein, zum einen die Zeit, es zu schreiben, und dann auch die Zeit für seine günstige Aufnahme beim Publikum. An Kindheitsromanen und Lebensnacherzählungen hat die Gegenwartsliteratur keinen Mangel. Es muß noch etwas anderes zum Bericht hinzutreten, um in den Bann zu schlagen, als da wären ein eigener Ton des Erzählens und ein Charakter, der die Unabdingbarkeit seiner Schilderungen beglaubigt.

Die gesättigte Traurigkeit von Bernd Wagners Roman „Die Sintflut in Sachsen“ hätte Leser und Literaturbetrieb vor zehn Jahren noch unberührt gelassen. Damals schrieb er bereits an dieser Geschichte seiner Kindheit. In der Öffentlichkeit aber wurde er wahrgenommen mit der Anleitung „Berlin für Arme“, die er mit seiner Tochter Luise veröffentlichte. Reichlich Erfahrungen dafür hatte er sammeln können, als eine Erkrankung ihn zum Fürsorgeempfänger machte. In bedrängter Lage gleichwohl die Würde zu wahren, damit kennen sich auch die kleinstädtischen Handwerker und ihre Familien in seinem neuen Roman gut aus. Was er in jenem „Stadtführer für Lebenskünstler“ 2008 beschrieben hat, könnte genauso gut aus der praktischen Weisheit der väterlichen Schmiedewerkstatt in Wurzen entsprungen sein: „Man kann Enten nicht nur füttern, sondern auch futtern.“ Sogar das Sinnbild der Flut hatte Wagner darin schon beschworen: „Man kann sich durch Überschwemmungen ruinieren, falls man nicht versichert ist, oder durch Versicherungen, wenn die Überschwemmungen ausbleiben.“

Die Versicherung des Autors besteht in seinem Sprachvermögen. Damit schält er aus den zufälligen Ereignissen eine innewohnende Bedeutung heraus. Wenn nun die Kraft dieses Vermögens den Anlaß seiner Anwendung überflügelt, dann besteht die Gefahr, sich in geistreichem Witz zu erschöpfen. In „Die Sintflut in Sachsen“ decken sich Inhalt und Form. Alle Risiken des Erzählens sind ästhetisch abgesichert und die Ereignisse wirken unausweichlich. Es wird eine vergangene Welt gegenwärtig, die mit Gerüchen, Geräuschen und Anblicken Bereiche erfüllte, die heute brach und entleert vor uns liegen.

Der Autor erkennt sich im Bild seiner Ahnen

An vielen Stellen läßt sich erahnen, daß der Autor selbst von diesem Gefühl erst spät überwältigt wurde, wenngleich es ihn unbemerkt schon lange zunehmend erfüllte. In einem Gespräch bekennt Wagner, daß seine Beziehung zu dem Geschilderten über bloße Erinnerungen weit hinausreicht: „Ich lebe damit, und das seit Jahren mit einer ungeheuren Intensität. Weil ich glaube, daß es hier nicht nur um Persönliches geht, sondern um eine Lebenswelt, die am Verschwinden ist, wollte ich etwas davon mitteilen.“

Wie ein erloschen geglaubter Schlot plötzlich wieder heißes Gestein aus sich schleudert, so überwölbt das vermeintlich Vergangene die Gegenwart und nimmt sie völlig ein. Wagner wurde 1948 als Sohn eines Schmiedes in der westsächsischen Kleinstadt Wurzen geboren. Seine Zeugung läßt er im Roman an dem Tag stattfinden, als Vater und Mutter sich nach der Heimkehr aus dem Krieg zum ersten Mal wiedersehen. „Daß ich also auf eine Welt kam, die mit meiner Geburt zu ihrem Untergang verurteilt war, eine rund tausend Jahre alte Welt, in der die Menschen noch mit Tieren zusammenlebten, in der sie Großfamilien bildeten und sich im Schweiße ihres Angesichts ernähren mußten, indem sie beispielsweise mit Hämmern auf glühendes Eisen einschlugen, eine Welt, in die ich anscheinend aus keinem anderen Grunde berufen wurde, als um von ihr ein letztes Zeugnis abzulegen.“

In Wagners Erzählvermögen findet sich zum einen die Fähigkeit, aus einfachen Umständen eine mythische Bedeutung herzuleiten, zu manderen ein Humor, der herzlich der Sache verpflichtet bleibt, mit der es grundsätzlich immer ernst gemeint ist. Über Mut und Können schreibt er: „... um gegen seine Familie anzuschreiben, bedarf es von beidem mehr als gegen seinen Staat, insbesondere wenn man sich das Mitgefühl nicht versagen kann.“

In seiner Kreuzberger Stammkneipe sichtet der Erzähler einen Aufkleber der Antifa. „Auf nach Wurzen!“ wird da mobilisiert und zum Boykott der wenigen Produkte aufgerufen, die aus der einst so industrialisierten Stadt in der Tieflandsbucht noch den Weg in Berliner Geschäfte finden.

Nach vierzig Jahren in Berlin nötigt ihn seine kranke Mutter in die Heimatstadt zurück. Zwischen den Krankenhausbesuchen fügt er im Elternhaus auf einer alten Schreibmaschine seine verstreuten Erinnerungen zusammen. Er ist weit davon entfernt, die Stillegung des Provinzlebens einem einzigen Ereignis anzulasten. Er sieht darin ein Resultat der aufgezwungenen Abschließung des Landes nach Ost und West während der Nachkriegszeit. Dennoch spiegelt er immer wieder die Auflösung der Arbeitswelt, deren mühevolles Gegen- und Miteinander einer weitgehenden gegenseitigen Gleichgültigkeit gewichen ist.

Bernd Wagners Großvater, Max Wagner, kam als Waise aus dem Dorf Müglenz, dem Geburtsort auch des Großvaters von Richard Wagner, mit dem eine Familienverwandtschaft bestehen soll. Hufe werden beschlagen und Wagenreifen aufgezogen, Kriegserzählungen sind zu hören, Schlachtung, Kartoffelernte und Getreidemahd halten die Ackerkleinbürger ständig auf Trab. 

Wagner erkennt sich selbst im Bild seiner Ahnen und deren Verhältnissen. Diese persönliche Befangenheit gehört zu den besten Eigenschaften seines Erzählens. Wir lesen eine Heldensage, die nicht mit der Fanfare, sondern mit der Flöte begleitet wird. Sein Schreiben erfolgt in der Absicht, „etwas ins Leben zurückzurufen, das mit dem früher oder später, in jedem Fall unweigerlich bevorstehenden Ende meiner Mutter ebenfalls verschwinden wird“.

Wenn sich dabei das Erinnern mit Erfinden paart, so ist das nicht allein auf Gedächtnislücken zurückzuführen. Wagner dichtet erst die Wirklichkeit aus dem Vorgefallenen. Dadurch werden die Geschichten zu einer lesbaren Geschichte, und aus dem Geschehen entpuppt sich eine weittragende Bedeutung. Die Werkstatt und die Küche im Vaterhaus waren seine Schule des Erzählens. Oft saß er auf dem noch warmen Amboß, während der Vater seine Kriegsgeschichten loswerden mußte. Wagners Roman bewahrt den Modus dieses mündlichen Erzählens, ohne folkloristisch oder lautmalerisch zu werden. Er entkräftet den Vorwurf eines Jugendfreundes, sich als ein Vampir am fremden Leben zu mästen, mit dem Hinweis, daß nur so überhaupt etwas bleibe von diesem Leben außer alter Kassenzettel und Ansichtskarten. Bereits als Heranwachsender fragt er sich: „Wie sollte ich mich an das mir zugedachte Leben gewöhnen, wenn es sich ständig veränderte?“

Bernd Wagner: Die Sintflut in Sachsen. Roman. Schöffling & Co., Frankfurt/M. 2018, gebunden, 432 Seiten, 24 Euro