© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/18 / 26. Oktober 2018

Einmal zahlen, zweimal rückerstatten
Cum-Ex und Dividendenstripping: Wie Investoren die Steuergesetze zu ihren Gunsten deuten
Thomas Kirchner

Der Schaden soll europaweit 55 Milliarden Euro betragen, schreiben die Journalisten von Correctiv, die mehrfache Steuerrückerstattung bei Dividenden aufgedeckt haben wollen. An der Dimension kann man zweifeln, nicht nur weil der Internetauftritt von Correctiv zum Thema viele Videos und sogar ein Theaterstück enthält, aber keine Zahlen, sondern auch weil derartige Schätzungen in der Vergangenheit stets um Zehnerpotenzen zu hoch lagen. Bei Steuerhinterziehung über die Schweiz etwa kamen Schätzungen auf Schäden von mehreren hundert Milliarden Euro pro Jahr, tatsächlich konnten die Finanzämter dann nur einen einstelligen Milliardenbetrag einsammeln.

Das grundlegende Problem heute ist die Abgeltungssteuer auf Dividenden, die Inländer unter bestimmten Umständen rückerstattet bekommen, um eine Doppelbesteuerung zu vermeiden. Wie man in den vergangenen Jahren schon bei der Mehrwertsteuerrückerstattung gesehen hat, schafft ein Erstattungspapierkrieg für clevere Betrüger Möglichkeiten, den Fiskus abermals abzuzocken.

Die aktuelle Cum-Ex-Affäre ist nur die neueste Variante im Chaos der Dividendenbesteuerung, das schon Jahrzehnte zurückreicht. Schon vor Einführung der Abgeltungssteuer gab es sogenanntes „Dividendenstripping“, als zusammen mit der Dividende eine anteilige Steuergutschrift für die vom Unternehmen gezahlte Steuer quittiert wurde, die nur für in Deutschland unbegrenzt steuerpflichtige einen Wert hatte. 1977 kamen deshalb Kursmakler an der Börse auf die Idee, kurz vor der Ausschüttung Aktien von Ausländern zu kaufen, dann die Dividende samt Steuergutschrift einzustreichen, und die Aktie am folgenden Tage an den ausländischen Halter zurückzuverkaufen. Der Trick dabei war der von vornherein festgelegte Rückkaufpreis in einer Höhe, die dem ausländischen Halter die Dividende und einen Anteil an der Steuerrückererstattung zukommen ließ. Somit hatten weder der Kursmakler noch der Aktionär ein Kursrisiko, konnten aber gleichzeitig die ansonsten verfallene Steuergutschrift realisieren. Das Finanzministerium bekam Ende der 1970er Jahre Wind davon und erklärte es zum Gestaltungsmißbrauch: der Kursmakler habe kein wirtschaftliches Eigentum. Die Strafverfolgung kam aber erst 1991 in Gang, als Börsenaufsehern hohe Steuerrückerstattungen in den Bilanzen der Kursmakler auffielen. 33 Makler und 27 Banken wurden mit Steuerrückforderungen von insgesamt zwei Milliarden Mark konfrontiert. Einige Freimakler gingen pleite, andere verloren ihre Lizenz. Mindestens ein Makler kam hinter Gitter.

Vor 2007 waren doppelte Rückforderungen legal

Ähnlich, nur noch komplizierter, funktioniert heute das Cum-Ex, in dem es um die Rückerstattung der inzwischen eingeführten Abgeltungssteuer geht. Das ist im Normalfall eine triviale Angelegenheit, wird aber schnell kompliziert, wenn Leerverkäufe und Derivate ins Spiel kommen. Dann gibt es zwei Eigentümer – den ursprünglichen Besitzer der Aktie, der das Papier an den Leerverkäufer verliehen hat, und den Endkäufer. Beide haben Anspruch auf eine Dividende, die natürlich nur einmal gezahlt wird, und zwar nur an den Erstbesitzer. Der Käufer einer leerverkauften Aktie erhält vom Leerverkäufer eine Ausgleichszahlung. Nur dem ursprünglichen Besitzer sollte die Steuergutschrift zuzurechnen sein, was aber erst seit 2007 nach einer Gesetzesänderung der Fall ist. Vorher war doppelte Rückforderung legal. Dennoch ist die Rechtslage weiterhin unklar. Einer Rechtsauffassung zufolge ist der Käufer einer leerverkauften Aktie ebenfalls wirtschaftlicher Eigentümer.

Bei der Vielzahl der Aktien- und Derivategeschäfte, die moderne Banken abwickeln, ist es nicht einfach, mißbräuchliches Dividendenstripping von legalen Rückforderungen zu unterscheiden. Erst eine detaillierte Analyse des komplexen Geschäftsmodells kann dies entscheiden. In deutschen Banken ist die Angst vor strafrechtlichen Konsequenzen des Dividendenstripping weit verbreitet, so daß kein deutsches Institut mehr als eine Nebenrolle spielen dürfte.

Der Cum-Ex-Skandal scheint sich deshalb auf ausländische Institute und Fonds zu beschränken, die speziell zu diesem Zweck für vermögende Anleger aufgelegt wurden. Aber nicht nur Reiche profitierten davon, auch amerikanische Rentner profitierten via US-Pensionfonds vom deutschen Fiskus. Durch schnelles Verschieben der Aktien am Tag der Dividendenzahlung über Landesgrenzen hinweg konnten diese Fonds von den Lagerstellen mehrfache Steuergutschriften für ein und dieselbe Aktie erhalten. Im europäischen Ausland ähnelt die Rückerstattung der Abgeltungssteuer der deutschen. Es ist also kein Wunder, daß die Fonds die Strategie, die in Deutschland prima lief, auf europäisches Niveau ausdehnten.

Bei Dividendenstripping urteilten Gerichte bisher je nach Faktenlage im Einzelfall und nicht immer zugunsten der Finanzämter. Angesichts der Rechtslage bei Cum-Ex, die löchrig ist wie ein Schweizer Käse, waren doppelte Rückerstattungen möglicherweise bis zuletzt legal, wenn auch sicherlich nicht legitim. Es wird noch Jahre dauern, bis die Gerichte jede einzelne Konstruktion rechtlich bewertet haben.

Solange bürokratische Rückerstattungen eine Doppelbesteuerung verhindern sollen, können Trickser den Fiskus abzocken. Nur Steuerfreiheit für Dividenden würde gleichzeitig eine Doppelbesteuerung verhindern, In- und Ausländer gleichstellen und krummen Steuertricks den Garaus machen.





Cum-Ex – kurz erklärt

Wie eine Aktie für einen Tag zwei Besitzer haben kann:

Ein Leerverkäufer verkauft am Tag vor der Dividendenzahlung Aktien an Investor A, die er gar nicht besitzt, die ihm nur zugesichert wurden. Er muß erst nach der Dividendenzahlung liefern.

Investor B ist im Besitz der Aktien. Am Stichtag bekommt er die Dividende, abzüglich 25%  Kapitalertragssteuer, die an den Fiskus fließt. Dafür bekommt Investor B eine Gutschrift,  mit der er die Steuer erstattet bekommt.

Der Leerverkäufer übernimmt die Aktien von Investor B und liefert sie an Investor A. Das Paket ist ohne Dividende weniger wert. Dafür zahlt er dem Käufer einen Ausgleichsbeitrag in Höhe der Dividende abzüglich der Kapitalertragssteuer.

Investor A war am Tag der Dividendenzahlung bereits wirtschaftlicher Eigentümer der Aktien. Auch er läßt sich eine Steuergutschrift zahlen.

Der Fiskus ist der Betrogene, denn er hat die Kapitalertragssteuer nur einmal erhalten, aber doppelt erstattet