© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/18 / 26. Oktober 2018

Die Mängel akzeptieren
Scheitern ohne Anstrengung als Erfolgsrezept: Der Dokumentarfilm „Mein Stottern“ von Birgit Gohlke und Petra Nickel
Sebastian Hennig

Birgit Gohlke stottert seit ihrer Kindheit. Jetzt erwägt die inzwischen 34jährige mit ihrem Mann mögliche Namen für das gemeinsam erwartete Kind. Sorgfältig werden dabei mögliche Stotterfallen berücksichtigt. Denn im Hintergrund lauert die quälende Vorstellung, den Namen des eigenen Kindes in einer gefährlichen Situation nicht herausbringen zu können. Clemens kommt nicht in Frage, denn „C und L ist ’ne ganz schlechte Kombination“. Schließlich wird es ein Josef.

Der Filmtitel „Mein Stottern“ läßt neben dem Manko zugleich dessen Lösung anklingen. Charaktereigenschaften und Krankheitsmerkmale gehen oftmals fließend ineinander über. Wer seine unveränderbaren Mängel akzeptiert, der leidet einerseits weniger unter ihnen und zieht dann auch seine Umgebung nicht mehr so stark in Mitleidenschaft. Die Therapeuten nennen das anstrengungsfreies oder Netto-Stottern.

Der Film von Petra Nickel und Birgit Gohlke fließt selbst unangestrengt dahin. Derart kurzweilig und pointiert können wahrscheinlich nur direkt Betroffene ein schwieriges Thema behandeln. Dabei hätte es des Verweises auf die britische Filmschmonzette „The King’s Speech“ (2011) und des kurzen, ziemlich nichtssagenden Gesprächs mit dessen Autor David Seidler überhaupt nicht bedurft. „Obwohl ich es recht gut unter Kontrolle habe, bin ich der Meinung, daß ich innerlich immer noch ein Stotternder bin“, sagt Seidler. Er hat seinen Oscar für das Drehbuch allen Stotterern der Welt gewidmet.

Die Umstände, wie Gohlkes Erinnerungen von dem Film wieder aufgewühlt wurden, werden hier selbst zur Filmgeschichte. Sie konnte es kaum ertragen, wie das Publikum sich an der Darstellung einer besonders qualvollen Stotterblockierung amüsierte. Ihre Co-Autorin Petra Nickel bemerkte als Therapeutin das von dem Film ausgelöste Interesse am Thema; zugleich empfanden beide den Ärger über die „offensichtlich voyeuristische Zugangsweise, mit der Betroffene ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt werden sollten“. Damit entstand der Plan eines Dokumentarfilms, der das Phänomen „von innen heraus“ beleuchten sollte. Das Ergebnis erhält seinen Glanz von den Protagonisten. Behutsam rücken sie mit ihren Geschichten heraus. Zusammengehalten wird das Ganze von Gohlkes eigenen Erfahrungen aus Kindheit und Jugend, die zuweilen mit gezeichneten Szenen veranschaulicht werden.

Ein Prozent aller Erwachsenen sind betroffen

Fünfmal soviel Männer wie Frauen haben diese Artikulationsschwierigkeiten, von denen insgesamt ein Prozent aller Erwachsenen heimgesucht sind. Viele von ihnen machen es wie Gerald. Der schweigt vorzugsweise einfach. Wenn er dann doch ins Reden kommt, wirft er seine Hände in die Luft. Einerseits rudert er sich damit durch den zähen Sprachfluß, andererseits fesselt er den Zuhörer mit Gesten. Wie ein Illusionist zerstreut er so die Aufmerksamkeit auf seine Tricks mit Ablenkungen. Zudem hat er sein Verhältnis zur Sprache noch ins Schreiben hinübergerettet. In einem Heft notiert er Beobachtungen und Einfälle.

Das Stottern Erwachsener läßt sich unter Kontrolle bringen, aber nicht völlig ablegen, denn es gründet in physischen Ursachen. Benedikt ist ein besonders schwerer Fall. Der junge Mann zuckt beim Sprechen mit dem Kopf. Unter Muskelkontraktionen schüttelt er die abgehackten Worte mühsam heraus. Daß der unterbrochene Sprachfluß vom Dialekt gefärbt ist, trägt wahrscheinlich ebenso zur Akzeptanz unter den Gleichaltrigen bei wie der eigene hemmungslose Umgang mit dem Stottern. Gelegentliche Hänseleien wischt er beiseite. Der Film läßt offen, ob die gelassene Handhabung seiner Situation in einer persönlichen Konstitution begründet liegt oder ob sie die Folge allgemeiner gesellschaftlicher Veränderungen ist.

Daß Benedikt ein guter Sänger ist, nützt ihm beim Sprechen nichts, denn beide Befähigungen haben im menschlichen Gehirn verschiedene Anbindungen. Aber es bringt ihn bei einem Talente-Wettbewerb weiter. Alle vier Juroren bringen ihm ihre Zustimmung entgegen. Die militärische Ausmusterung konnte er abwenden und erweist sich beim Wehrdienst als zuverlässiger Fahrer. Ein Stottertherapeut wird während gebräuchlicher Übungen mit zwei Klienten gezeigt.

Für den dreißig Jahre früher geborenen Volker mußte noch die ältere Schwester in die Bresche springen. Sie hat sich für ihn geprügelt. Daß ihr Vater auch stotterte, hat sie gar nicht mitbekommen. 

Die Binnensicht der sprachlich Gehemmten wird aufgebrochen und umgekehrt durch die Perspektive eines professionellen Sprachkünstlers. Der Schauspieler Alexander Fennon muß für eine Filmrolle möglichst überzeugend stottern. Er geht es zunächst an, wie Schauspieler neben dem Reiten etwa auch lernen, vom Pferd zu fallen. Doch ganz so verletzungsfrei geht es letztlich nicht zu. Denn die Logopädin Nickel gibt ihre Mentorenschaft über Fennon an die Stotterin Gohlke ab. Um überzeugend zu sein, soll Alex das Gelingen seines Stottern nicht als schauspielerischen Erfolg, sondern als menschliche Pein empfinden. Zuletzt sitzen die beiden in einem Café und er bestellt stotternd. Drei Menschen werden in dieser Situation gequält. Wie ihm die Bedienung bevormundend behilflich sein will, empfindet der Schauspieler als „nett und fürchterlich zugleich“. 

Filmstart am 25. Oktober 2018  www.meinstottern.at