© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/18 / 26. Oktober 2018

Demokratisch auch mit Kaiser
Verfassungsreform im Oktober 1918: Das Deutsche Reich wird zur parlamentarischen Demokratie
Hans Fenske

Am 28. Oktober 1918 stimmte der Bundesrat des Deutschen Reiches zwei Gesetzen zur Änderung der Reichsverfassung vom 16. April 1871 zu, die der Reichstag kurz zuvor verabschiedet hatte. Sie traten mit der Verkündung durch Kaiser Wilhelm II. noch am selben Tag in Kraft. Das erste dieser beiden Gesetze hob den Artikel 21 (2) der Reichsverfassung auf, dem zufolge ein Mitglied des Reichstags bei Annahme eines besoldeten Staatsamts im Reich oder in einem der Bundesstaaten oder bei Beförderung auf eine höhere Stelle sein Mandat verlor, es aber durch eine erneute Wahl wiedererlangen konnte. Das zweite Gesetz änderte die Bestimmungen von sechs Artikeln der Verfassung. Am wichtigsten war die Hinzufügung eines Absatzes 3 zu Artikel 21: „Der Reichskanzler bedarf zu seiner Amtsführung des Vertrauens des Reichstags.“ Damit wurde das Deutsche Reich zur parlamentarischen Monarchie.

Nicht selten wird seither diese Verfassungsänderung in einen engen Zusammenhang mit der Antwortnote des US-amerikanischen Präsidenten Wilson vom 8. Oktober 1918 auf das am 3. Oktober über die Schweiz an ihn gerichtete Ersuchen des Reichskanzlers Prinz Max von Baden gebracht, die Herstellung des Friedens in die Hand zu nehmen und zur Vermeidung weiteren Blutvergießens „den sofortigen Abschluß eines Waffenstillstandes zu Lande, zu Wasser und in der Luft herbeizuführen“. 

Wilson hatte seinen Staatssekretär für Auswärtiges dilatorisch antworten und fragen lassen, ob der Kanzler nur für diejenigen spreche, „die bisher den Krieg geführt haben“. Damit war unterstellt, daß die maßgeblichen Persönlichkeiten des deutschen Heeres auch das entscheidende politische Gewicht hatten. Sehr drastisch hatte Wilson diese Unterstellung in einer Rede wenige Monate zuvor, am 3. Juli, formuliert, als er sagte, es gehe um die Vernichtung der willkürlichen Macht, die allein und auf eigene Willensbildung den Weltfrieden stören könne. Dieser Zusammenhang greift zu kurz. Die Neuformulierung von sieben Artikeln der Reichsverfassung hatte eine viel längere Vorgeschichte.

Reform schon vor dem „Burgfrieden“ versprochen

Von den deutschen Parteien waren die Sozialdemokratie und die im März 1910 aus dem Zusammenschluß dreier kleinerer Parteien entstandene Fortschrittliche Volkspartei programmatisch auf eine durchgreifende Verfassungsreform festgelegt, aber eine große Rolle spielte diese Frage in den innenpolitischen Auseinandersetzungen in den Vorkriegsjahren hinsichtlich des Reiches nicht. Für Preußen und vor allem für das preußische Dreiklassenwahlrecht sah es anders aus. 

Als es im Herbst 1908 wegen ungeschickter Äußerungen des Kaisers gegenüber der englischen Zeitung Daily Telegraph zu einer schweren Krise kam, beantragte die SPD im Reichstag ein Ministerverantwortlichkeits-Gesetz, in dem auch vorgeschrieben werden sollte, daß der Reichskanzler zu entlassen sei, wenn der Reichstag es forderte, drang damit aber nicht durch. Der linksliberale Abgeordnete Georg Gothein sagte in der Debatte, die deutschen Parteien seien noch nicht reif genug, den Kanzler an das Vertrauen des Parlaments zu binden. 

Der Geschäftsordnungsausschuß des Reichstags befaßte sich ausführlich mit den aus der Daily-Telegraph-Affäre zu ziehenden Konsequenzen. Am Ende seiner Beratungen stand eine Ergänzung der Geschäftsordnung. Bei der Beantwortung einer Interpellation konnte der Reichstag fortan feststellen, ob er die Behandlung des Gegenstandes durch den Kanzler billige oder nicht. In der Plenardebatte darüber teilte der Sozialdemokrat Georg Ledebour mit, in der Kommission habe niemand von einer Machterweiterung des Reichstags gesprochen, seine Partei werde eine Verfassungsänderung beantragen, wenn sie es aufgrund der politischen Entwicklung für nötig halte, die Befugnisse des Parlaments zu vermehren. Der Staatssekretär des Innern erklärte, staatsrechtliche Konsequenzen habe die Neuregelung nicht. 

Entsprechend sah sich Reichskanzler Theodor von Bethmann Hollweg bei den beiden 1913 ausgesprochenen Mißbilligungen nicht zum Rücktritt veranlaßt. Im Januar 1914 wies der nationalliberale Parteivorsitzende Ernst Bessermann die Ansicht zurück, seine Partei erstrebe die parlamentarische Regierung. Wegen der Vielzahl der Parteien und ihres Verhältnisses zueinander sei das unmöglich. Sie wolle jedoch einen starken Reichstag neben der Regierung. Daß der Reichstag stark war, ließ sich nicht bestreiten. Er hatte von Anfang an bei der Gesetzgebung mehr Gewicht als der Bundesrat.

Nach dem Kriegsausbruch Anfang August 1914 verständigten sich die Parteien darauf, die innenpolitischen Gegensätze ruhen zu lassen. Das war der sogenannte Burgfrieden. Acht Wochen später kündigte Bethmann Hollweg vor Parteiführern in Preußen eine Neuorientierung nach dem Kriege an und nannte dabei vor allem die preußische Wahlrechtsreform und die Herstellung engerer Beziehungen zwischen der Reichsleitung und dem Reichstag. Daß der Krieg noch vier Jahre dauern, von den Streitkräften außerordentlich hohe Opfer fordern und auch die Zivilbevölkerung schweren Belastungen aussetzen werde, erwartete er nicht. 

Zentrumspartei verzögerte die Verfassungsreform

Der Burgfrieden ließ sich natürlich nicht konsequent durchhalten. Das Verlangen nach Reformen wurde 1916 stärker laut. Der Zentrumsabgeordnete Peter Spahn etwa wünschte im Mai die Aufnahme von Vertrauensmännern der Parteien in die Ministerien, und der Nationalliberale Gustav Stresemann erklärte im Oktober, daß aus dem Erleben des Krieges eine ganz andere Stellung des Reichstags gegenüber der Regierung hervorgehen müsse. Im März 1917 mahnte Bethmann Hollweg im preußischen Abgeordnetenhaus: „Wehe dem Staatsmann, der glaubt“, er könnte nach einer Katastrophe wie diesem Krieg „einfach wieder anknüpfen an das, was vorher war.“ 

Im April konstituierte sich auf Antrag Stresemanns ein Verfassungsausschuß des Reichstags und befaßte sich eingehend mit nötigen Verfassungsänderungen. Darüber wurde im Plenum sehr kontrovers diskutiert. Konkretes Ergebnis der Beratungen war 1918 die erhebliche Änderung des Reichstagswahlrechts. Im Zusammenhang mit der vom Reichstag verabschiedeten Friedensresolution bildeten Zentrum, FVP und SPD, die zusammen 288 der 397 Reichstagsmandate hatten, im Juli 1917 einen Interfraktionellen Ausschuß. Er war bis zum Herbst 1918 ein sehr wichtiges Forum zur Besprechung politischer Fragen; an seinen Verhandlungen nahmen geraume Zeit auch die Nationalliberalen teil. 

Bethmann Hollweg trat wegen der Friedensresolution zurück, sein Nachfolger Georg Michaelis, ein hoher preußischer Verwaltungsbeamter, hielt sich nur wenige Wochen im Amt, dann nahm er wegen eines drohenden Mißtrauensvotums seinen Abschied. Reichskanzler wurde nun der Vorsitzende des bayerischen Ministerrates und Zentrumspolitiker Georg Graf von Hertling. Der Linksliberale Friedrich von Payer wurde Vizekanzler. Hertling war der Parlamentarisierung nicht geneigt, und die Vertreter des Zentrums im Interfraktionellen Ausschuß hielten sich in dieser Frage mit Rücksicht auf Bayern zurück. Dagegen warben Sozialdemokraten, Fortschrittler und schließlich auch die Nationalliberalen entschieden für eine Änderung des Regierungssystems. 

Der von einer Kommission des Interfraktionellen Ausschusses im September 1918 vorgelegten Reformdenkschrift stimmte die Zentrumsführung nicht zu. Ende dieses Monats erklärte die Oberste Heeresleitung, daß ein längeres Weiterkämpfen keine entscheidende Wendung mehr bringen könne, und verlangte einen Waffenstillstand sowie einen Wechsel der Regierung oder doch ihren Ausbau auf breiter Grundlage. Entsprechend beschloß der Kronrat am 29. September, daß Männer, die vom Vertrauen des Volkes getragen seien, in weiterem Umfang an der Regierung teilnehmen sollten. Hertling trat deshalb zurück, sein Nachfolger wurde Prinz Max von Baden, ein Parteiloser mit Sympathie für die Nationalliberalen. Das Reichsamt des Innern übernahm der Zentrumspolitiker Karl Trimborn, das neugeschaffene Reichsarbeitsamt der Sozialdemokrat und Gewerkschaftsführer Gustav Bauer.

Eine Kommission des Interfraktionellen Ausschusses formulierte in Zusammenarbeit mit dem Reichsamt des Innern die Gesetzentwürfe für die Verfassungsreform, und die drei Mehrheitsparteien brachten sie am 20. Oktober im Reichstag ein. Dort wurden sie wenige Tage später verabschiedet. Sie blieben auf dem Papier. Da die Alliierten den Waffenstillstand mehr als vier Wochen verzögerten, um ihre militärische Position noch zu verbessern, kam es im November zur Revolution und zum Sturz der Monarchie im Reich und in den Bundesstaaten. Hätte sich das Zentrum bei der Verfassungsreform nicht so lange zögerlich verhalten, wäre Deutschland schon etliche Monate früher zur parlamentarischen Monarchie geworden. Welche Bedeutung das für die weitere Entwicklung gehabt hätte, muß Vermutungen überlassen bleiben.






Prof. Dr. Hans Fenske lehrte Neuere und neueste Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg im Breisgau.