© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/18 / 02. November 2018

Fake Views sind überall
Neuerschaffung der Wirklichkeit: Die Ausstellung „Lust der Täuschung“ in der Münchner Kunsthalle präsentiert einen abwechslungsreichen Parcours durch die Geschichte von Schein und Illusion
Felix Dirsch

In unseren Tagen sorgt besonders das Internet dafür, daß Realität und Simulation immer weniger zu differenzieren sind. Fakten haben einen schweren Stand in der öffentlichen Kontroverse. Die Debatten um „Lügenpresse“ und Desinformationskampagnen liefern hierfür Belege.

Die aktuelle Ausstellung der HypoKulturstiftung bietet bereits zu Beginn ein anschauliches wie praktisches Beispiel, wie schwer unter Umständen ein künstlich erzeugtes Bild von der „realen“ Außenwelt zu unterscheiden ist. Der Besucher erhält eine hochauflösende VR-Brille aufgesetzt und taucht in die Welt der Virtual Reality ein. Nach kurzer Fahrt in einem fiktiven Fahrstuhl landet er auf dem Dach eines Hochhauses. Dort ist ein Brett festgemacht, auf dem er sich vorwärtsbewegen kann. Links und rechts blickt er in tiefe Abgründe. Der eine oder andere dürfte froh gewesen sein, die elektronische Brille wieder abnehmen zu können und sich auf festem Grund wiederzufinden, den er natürlich nie verlassen hat. Der Manipulationseffekt ist verblüffend. Was der Mensch für wahr halten möchte, hält er auch für wahr. Der Selbstbetrug ist somit leicht, wußte schon im Altertum der Athener Redner Demosthenes. 

Neben diesem Höhepunkt der langen Liste von „Fake Views“ werden dem Interessierten viele vergleichbare Beispiele medialer Tricksereien und Fälschungen gezeigt. Schwerpunkte sind Malerei, Skulptur, Videokunst und Architektur. 

Bereits eine Tafel am Beginn des Rundganges ruft in Erinnerung, daß der Mensch zu Sinnesmaterial, das von außen auf ihn einströmt, keinen unmittelbaren Bezug besitzt; vielmehr muß das Gehirn entsprechende Erfahrungen verarbeiten. Zahlreich sind die visuellen Versuche, etwas vorzugaukeln, das sich anschließend als Irrtum offenbart. Man will es oft nicht wahrhaben: Sehen heißt glauben. Der vielleicht größte Fälscher in unserem Leben ist unser Gehirn. Ein Werk paßt hervorragend zur Veranschaulichung: Sigmar Polkes Gemälde „Die drei Lügen der Malerei“ präsentiert ein Fenster, wohl eine Anspielung auf eine Metapher des Architekturtheoretikers der Renaissance, Leon Battista Alberti. Es scheint ein Berg durch, dessen Fuß vor und dessen Gipfel hinter den Sprossen im Fenster gelegen ist. Weiter ist ein Baum zu erkennen, dessen Wurzeln der Künstler oberhalb der Erde plaziert. Selbst der oberflächlichste Beobachter muß wahrnehmen, daß hier etwas nicht stimmt.

Die berühmteste Bildtäuschung der Antike ist wohl das Bild des Athener Malers Parrhasios. Er lieferte sich einen Wettstreit mit Zeuxis, der Trauben so naturgetreu darstellte, daß Vögel sie anpickten. Durch einen von Parrhasios gemalten Vorhang wurde Zeuxis jedoch selbst getäuscht: Er wollte den Schleier beiseite schieben, um die Malerei dahinter besser betrachten zu können. Reingefallen, kann man da nur sagen. Parrhasios erwies sich somit als Sieger. Plinius der Ältere überlieferte die immer wieder von neuem ausgeschmückte Geschichte.

Auch der christlichen Tradition sind Fälschungen nicht fremd. Diverse Christusbilder etwa sind auf zum Teil täuschend echte Weise immer wieder reproduziert worden. Emmanuel Maignan, der in dieser Tradition steht, stellt (als Beispiel für anamorphotische Wandmalerei) den Heiligen Franz von Paola im Gebet dar; dessen Körper hebt sich dabei von der Landschaft kaum ab. Wie die antike Kunst bereits dreidimensionale Räumlichkeit simulierte, schuf man barocke Kirchendeckenfresken mitunter so illusionistisch, daß bei ihrem Anblick viele die Offenbarung der Dreifaltigkeit aufscheinen sehen.

Zu den imposantesten Exponaten der Ausstellung zählen die aus den Wunderkammern und Kuriositätenkabinetten der Renaissance, den Vorläufern der heutigen Museen. Die Fülle an Gegenständen erschlägt den Besucher beinahe. Manche (auch banale) Dinge des Alltags werden in Vitrinen aufbewahrt und damit in Wert und Bedeutung erhöht.

Wahrnehmungen sind epochenabhängig

Ein eigener Raum ist einer Auswahl von Trompe-l’œil-Darstellungen aus dem 16. und 17. Jahrhundert gewidmet. Vor allem die Niederländer machten diese Art von Augentäuschungen groß und systematisierten damit eine Praxis, mit der begabte Künstler bereits seit jeher hantierten. Bilder von zersprungenem Rahmenglas zählen zu den beliebten Typen. Weiter ragt Cornelis Gijsbrechts’ „Quodlibet“ (1675) aus diesem Genre heraus. Der Unterschied dieser Malerei vom Stilleben wird dem Besucher nahegebracht.

Nähert man sich der Moderne, werden die Fälschungstechniken in künstlerischer wie betrügerischer Absicht raffinierter. Was unterscheidet den Künstler vom Betrüger? Manchmal ist der Weg von einem Metier zum anderen kurz. Eric Gabriel Torsgren nutzte eine Haftstrafe wegen Banknotenfälschung, um Quodlibets für künstlerische Zwecke anzufertigen. Es handelt sich hierbei um Stiche, Buchseiten und Titelblätter von Hamburger Zeitungen.

Im 20. Jahrhundert werden auch die Quodlibets serieller und dem Zeitalter der immer leichteren und billigeren Massenproduktion angemessener. Die Künstlerin Lucy McKenzie rief Aufsehen hervor mit einem Tisch, der in einem Wartezimmer stehen könnte. Auf diesem liegen, so scheint es, Zeitschriften. Erst auf den zweiten Blick erkennt man, daß die Illustrierten Teil der gemalten Tischplatte im Bild sind. Zur hyperrealistischen (Skulptur-)Tradition der Gegenwart zählt der Versuch, Menschen so echt wie nur möglich nachzubilden. John de Andrea gilt als Meister dieser Gattung. Vielleicht werden solche Skulpturen einst mit den dann zur Verfügung stehenden technischen Mitteln zum Leben erweckt werden, wie in der griechischen Sagenwelt das von Bildhauer Pygmalion geliebte Bildwerk, dem schließlich von der Göttin Venus Leben eingehaucht wird.

Wahrnehmungen sind hochgradig epochenabhängig. Wir sind im Zeitalter der Reizüberflutung vieles gewohnt. Die Zeitgenossen an der Wende zum 20. Jahrhundert dürften darin wohl weniger Erfahrung besessen haben. Dies zeigen die Reaktionen auf die ersten bewegten Bilder in frühen Filmvorführungen. Die Gebrüder Lumière präsentierten einen fahrenden Zug, von dem viele Zuschauer fürchteten, daß er sich ihnen nähert.

Aus der großen Zahl von neueren Artefakten, die in der Ausstellung gezeigt werden, sind lediglich Andy Warhols legendäre Brillo Boxes (1964) zu erwähnen. Der US-Künstler wechselte gekonnt zwischen dem künstlerischen Werk, dem nach herkömmlicher Auffassung Besonderheit zugeschrieben wird, und den standardisierten Produkten des Massenkonsums hin und her. Muß es zwischen beiden überhaupt Differenzen geben und wenn ja, worin bestehen diese? Kommt dem Original, welches den Nachbildungen zugrunde liegen muß, überhaupt ein besonderer Wert zu? Hier besteht immenses Potential für Täuschungen.

Über die Aktualität der Ausstellung braucht man nicht viele Worte zu verlieren. Deutlich wird vor allem, daß der Begriff Fake News, schon geraume Zeit in aller Munde, um die Bezeichnung Fake Views ergänzt werden muß. Hinter solchen Phänomenen sind aber nicht nur Versuche zu erkennen, andere durch geschickte Inszenierungen hinters Licht zu führen; vielmehr stellen sich mindestens zwei zentrale philosophische Fragen neu: Was ist Wahrheit und was ist Wirklichkeit? Die Antworten fallen in unserer digitalen Epoche anders aus als früher.

Die Ausstellung „Lust der Täuschung. Von antiker Kunst bis zur Virtual Reality“ ist bis zum 13. Januar 2019  in der Münchner Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung, Theatinerstraße 8, täglich von 10 bis 20 Uhr zu sehen. Telefon: 089 / 22 44 12

Der Katalog mit 264 Seiten und 200 farbigen Abbildungen kostet in der Kunsthalle 29 Euro

 www.kunsthalle-muc.de