© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/18 / 09. November 2018

„Unverbindlich ist der Pakt nur theoretisch“
Ist der Global Compact for Migration der Uno tatsächlich so harmlos, wie Politik und Medien behaupten? Im Gegenteil, warnt der Völkerrechtler Ulrich Vosgerau, in Sachen Zuwanderung und Souveränität ist er gefährlich wie ein Trojanisches Pferd
Moritz Schwarz

Herr Dr. Vosgerau, wird unser Asyl- und Ausländerrecht durch den sogenannten UN-Migrationspakt künftig ausgehebelt?

Ulrich Vosgerau: Das werde ich oft gefragt – diese Formulierung muß offenbar durchs Internet geistern. Nein, das nationale Recht wird nicht „ausgehebelt“, so funktioniert das Völkerrecht im allgemeinen nicht. Man darf diesen Global Compact for Migration, wie er im Original heißt, und seine Wirkungsweise nicht mit höherrangigem Recht – wie etwa dem EU-Recht – verwechseln, das mit einem „Anwendungsvorrang“ ausgestattet ist und im Konfliktfall nationalem Recht unmittelbar vorgeht.

Also hat die Bundesregierung recht, wenn sie betont, der Pakt sei zwar politisch, nicht jedoch rechtlich verbindlich?

Vosgerau: Nun, auch diese Formulierung ist ziemlich dubios. Im Völkerrecht gibt es ganz allgemein keine Zwangsvollstreckung, keinen Gerichtsvollzieher und keine Polizei. Daher ist eine völkerrechtliche Bindung immer politisch und niemals „rechtlich“ im Sinne von Zwangsmechanismen innerhalb einer nationalen Rechtsordnung. Mithin wirkt das ständige Insistieren der Bundesregierung auf diesen angeblichen Unterschied doch etwas irreführend. 

Also wird man Deutschland nicht beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag auf Umsetzung des Paktes verklagen können?

Vosgerau: Nein, kann man nicht. Schon deshalb nicht, weil wir keine Verpflichtungen gegenüber einem anderen Staat eingehen, sondern nur abstrakt gegenüber der Uno oder der „Weltgemeinschaft“ – und die klagen nicht vor dem IGH. Auf die gewundenen, teils selbstwidersprüchlichen Formulierungen des Paktes über seine Verbindlichkeit oder auch Unverbindlichkeit kommt es insofern gar nicht an.

Also Entwarnung?

Vosgerau: Die FAZ schrieb letzten Samstag, kein Staat würde eine solche Erklärung unterschreiben, um deren Ziele dann einfach zu ignorieren. Ich würde sagen: Doch! Allerdings gewiß nicht die Bundesrepublik Deutschland. Das Hauptproblem in puncto Migrationspakt sehe ich aber nicht in der politischen Selbstverpflichtung bei Nichtvorhandensein rechtlicher Zwangsmittel.

Sondern? 

Vosgerau: Nun, wer wie die Bundesregierung stets nur auf reine Legalitätsfragen abstellt, verkennt die wahre Natur und die eigentliche Arbeitsweise des heutigen Völkerrechts.

Das bedeutet konkret?

Vosgerau: Das werden Sie bald nach Unterzeichnung des Paktes sehen: Ich sage voraus, daß dann jede aufenthaltsbeendende Maßnahme, jede Zurückweisung an der Grenze, überhaupt jede Verwaltungsentscheidung, die nicht den Wünschen eines „Flüchtlings“ entspricht, von den einschlägigen NGOs, also den Nichtregierungsorganisationen, und der sogenannten Asylindustrie mit all ihren Anwälten sowie den Medien als Verletzung bindender Abkommen, internationaler Menschenrechtsstandards und der Vorgaben der Uno bewertet werden wird. Und dieser angebliche Makel wird dann so lange in den Medien wiederholt werden, bis auch der letzte dies als eine objektive Tatsache betrachtet – obwohl das nicht zutrifft. Daß der Pakt unverbindlich ist, mag also theoretisch derzeit stimmen. Nur, vom Tag der Unterzeichnung an werden Sie plötzlich überall das Gegenteil lesen und hören.

Sie glauben wirklich, die Medien behaupten morgen das Gegenteil dessen, was sie heute sagen?

Vosgerau: Nicht nur die „bösen“ Medien, wir „objektiven“ Wissenschaftler können das genauso gut. Stichwort Griechenland-Rettung – die ja eigentlich eine Rettung französischer Banken war. Bis 2010 galt im Europarecht jeder als kenntnisloser Trottel, der es – wie der kluge, verdienstvolle Euro-Kläger Man­fred Brunner – für denkbar hielt, daß die Bundesrepublik eines Tages doch noch für fremde Staatsschulden würde haften müssen. Denn schließlich verboten die Verträge von Maastricht und Lissabon die Haftung für fremde Staatsschulden. Zwanzig Jahre lang hat die CDU/CSU mit diesem Umstand Wahlkampf gemacht, damit also, daß man ihr europapolitisch vertrauen könne. Ab März 2010 galt dann plötzlich jeder als Trottel, der weiter an dieses Verbot glaubte. Denn, so die Argumentation, es bedeute tatsächlich etwas ganz anderes als bisher: Verboten sei lediglich der Zwang zur Haftungsübernahme. Wenn Deutschland hingegen freiwillig bürgen wolle, sei das erlaubt. Noch ein Jahr vorher wäre keiner darauf gekommen, selbst die größten Euro-Fans nicht – so lange nicht, wie die Situation, die das verlangte, nicht gegeben war. 

Die Völkerrechtler, so Ihre Prognose, werden den Pakt also uminterpretieren?

Vosgerau: Etliche ja, aber Sie haben eben eigentlich nach den Medien gefragt. Die haben natürlich viel mehr Einfluß auf die öffentliche Meinungsbildung als wir Juristen. Unlängst sah ich im ZDF einen Bericht über diesen Menschentreck durch Lateinamerika, Richtung USA. Da wurde gesagt, eigentlich habe jeder das Recht, in die USA einzureisen, es sei denn, er sei nachweislich Terrorist. Und daß es Trumps neuster Rechtsbruch sei, die Leute nicht hereinzulassen. Das ist natürlich dummes Zeug. Doch in Ziffer 15j des Migrationspaktes steht, daß die weltweiten Rechte der Migranten von Regierungen allein gar nicht durchgesetzt werden können, weshalb Zivilgesellschaft, NGOs und vor allem die Medien tüchtig nachhelfen müßten. Beim ZDF hat man offenbar schon verstanden. 

Der Bonner Völkerrechtler Matthias Herdegen warnte in der „Welt“ vor einer „Grauzone rechtlicher Unverbindlichkeit“ durch den Pakt, „die aber dennoch den Eindruck der Verbindlichkeit erweckt“. Wodurch „Erwartungen bei Migrationswilligen geweckt“ würden, ohne auf verläßlichen Strukturen aufbauen zu können“.

Vosgerau: Dieses Problem besteht. Jedoch liefert Herdegen nur eine Momentaufnahme. Die Sache ist langfristig die: der Global Compact zielt nicht auf die Legalität, sondern auf die Legitimität jeder nationalen Einwanderungspolitik. Und die Legitimität – die unsere heutigen, modischen Positivisten und Hans-Kelsen-Anhänger für eine außerjuristische Größe halten und damit völlig verkennen – ist auf lange Sicht immer die entscheidende Größe. Sie setzt sich am Ende immer gegen den Legalismus durch. Die positiven Gesetze ändern sich sowieso jeden Tag – das macht den modernen Staat überhaupt erst aus. Aber keine noch so ausgefeilte, demokratisch legitimierte gesetzliche Regelung, wie etwa eine interessengerechte nationale Einwanderungspolitik, kann Bestand haben, wenn sie – mit Verweis auf die Selbstverpflichtungen, die wir mit dem Migrationspakt eingehen – ständig als illegitim, ungerecht, ja als permanente Verletzung der Menschenrechte hingestellt wird. Darum aber geht es! Das ist der Zweck dieses Compact! Das weiche Wasser bricht den Stein – ganz ohne „aushebeln“. Die Änderung unserer migrationspolitischen Legitimitätsvorstellungen ist ein längerer Prozeß, den der Pakt unterschwellig vorantreiben will.

Legalität ist die Geltung und Beachtung der Gesetze. Aber was meint „Legitimität“?

Vosgerau: Legitimität wird in demokratischen Staaten von unten nach oben aufgebaut, durch Wahlen und die Willensbildung in Parlamenten gegenüber der Regierung. Ein Gesetz ist legitim, wenn es – hauptsächlich kraft des verfassungsmäßig vorgesehenen Verfahrens – als Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts eines Volkes angesehen werden kann. Globale Zielvereinbarungen internationaler Organisationen, wie eben der Global Compact, stellen dieses Prinzip auf den Kopf und behaupten: legitim ist eine nationale Migrationspolitik nur dann, wenn sie den migrationsfreundlichen Zielen des Global Compact entspricht. Und das wird dann von Medien, NGOs und Asylhelfern so lange wiederholt, bis es jedenfalls bei politisch Interessierten zu einer – wenn auch falschen – Gewißheit geworden ist. Statt Legimitation von unten nach oben, nun „Legitimation“ von oben nach unten – sprich Erziehung statt demokratischer Willensbildung. Fragen Sie doch mal im Januar 2019 die Grünen oder die EKD, was am Global Compact unverbindlich sei. Die werden sagen: Wieso unverbindlich? Da ist alles verbindlich! Sonst hätten wir ja nicht zu unterschreiben brauchen! Wie gesagt, Ziel ist die Änderung unserer Legitimitätsvorstellung. 

Der Pakt ändert also nichts an der unmittelbaren Rechtslage, aber er verändert mit der Zeit unsere Vorstellung vom Recht. Ist er nun also Recht oder Politik, oder ist er verschriftlichte Moral, eine Art „Bibel“?

Vosgerau: Schwer zu sagen. Völkerrechtlich gehört er in die Kategorie des „Soft Law“, übersetzt: „weiches Recht“. Dieses Soft Law ist kein „richtiges“ Recht, sondern verbindliche Standards, die dem Recht nur nahekommen – allerdings früher oder später technisches Völkerrecht werden können. Nehmen Sie als Beispiel die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948. Damals war das eine völlig unverbindliche politische Absichtserklärung. Inzwischen aber gehört sie längst zum Völkergewohnheitsrecht, und bestimmte Kerngehalte wie das Folter- und Sklavereiverbot oder das Verbot der Rassendiskriminierung dürfen wohl als Ius cogens gelten, also als zwingendes Völkerrecht, von dem Staaten nicht mehr abweichen dürften, auch wenn sie es wollten. Die Erfahrung der letzten Jahrzehnte zeigt, daß man das Verhalten von Staaten durch die Etablierung von internationalen Standards auf Soft-Law-Ebene viel effektiver angleichen und homogenisieren kann als durch explizit rechtswirksame Verträge, das sogenannte „Hard Law“. 

Soft Law ist also zwar ein bißchen weniger bindend als Hard Law, aber dafür viel „weniger freiwillig“?  

Vosgerau: So kann man es zusammenfassen. Und es kommt noch etwas hinzu: Soft Law kann auch ohne Parlamentsbeschluß geltendes Staatsrecht werden. Nämlich dann, wenn die Verwaltungsgerichte – aber auch der Europäische Gerichtshof oder der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte – den Inhalt des Soft Law, hier des Migrationspakts, als internationalen Menschenrechtsstandard anerkennen und daraufhin befinden: Ein demokratisch legitimierter Gesetzgeber kann unmöglich so verstanden werden, daß er hinter internationalen menschenrechtlichen Standards zurückbleiben will, wie sie im Migrationsrecht anerkannt sind. Und so wird der Pakt, oder auch nur Teile davon, ganz schnell deutsches oder auch EU-Recht.

Wie kann etwas „früher oder später“ Recht werden? Recht ist Produkt eines formalen Prozesses, jemand muß es doch beschließen.

Vosgerau: Im Völkerrecht nicht unbedingt. Dort geht es eher um Gewohnheit, um wachsende Anerkennung oder eine neue Auslegung von Texten. Das was wir heute Folter, Sklaverei und Menschenrechtsverletzung nennen, galt im Jahr 1955 durchweg noch als „innere Angelegenheit“ der Staaten, in die sich andere Staaten nicht einmischen durften. Das sagt zwar zum Glück heute niemand mehr. Aber „beschlossen“ hat das eigentlich keiner. Es hat sich so ergeben, weil sich im Lauf der Zeit unsere Legitimitätsvorstellungen gewandelt haben. Und dieser Wandel hört nicht auf, er setzt sich immer weiter fort.

Anders als die Erklärung der Menschenrechte betont der Migrationspakt jedoch mehrfach, rechtlich nicht bindend zu sein, sowie das souveräne Recht der Staaten, ihre Einwanderungspolitik selbst zu bestimmen.

Vosgerau: Das stimmt, aber das steht dort nicht vorbehaltlos. Sondern es wird jeweils nachgeschoben: dies gelte nur in Übereinstimmung mit dem internationalen Recht und bei Wahrung aller völkerrechtlichen Verpflichtungen. Dabei ist unklar, was das genau bedeuten soll. Welche internationalen Verpflichtungen hat denn zum Beispiel Japan bei der Gestaltung seiner Einwanderungspolitik? Und wahrt es diese auch? Jedenfalls, wenn der Migrationspakt mit diesen Vorbehalten auf sich selbst verweisen würde – beziehungsweise in ein paar Jahren eben so verstanden werden wird –, dann würden oder werden diese Bekenntnisse zur nationalen Souveränität ins Leere laufen. Wissen Sie, in der Welt stand, der Pakt enthalte 87mal die Worte „verpflichten“, „Verpflichtung“ oder entsprechende Synonyme. Ich habe das zwar nicht nachgezählt, aber es dürfte hinkommen. Jedenfalls merkt man da, wohin die Reise gehen soll! Auch muß man parallel zu den Passagen, in denen von nationaler Souveränität die Rede ist, also den Ziffern 7 und 15, auch die Ziffern 41 und 42 lesen, die sich mit der unbedingten Pflicht der Unterzeichnerstaaten zur Umsetzung des Paktes befassen. Danach scheinen diese bereits auf ihre Souveränität verzichtet zu haben, weil sie sich zur bedingungslosen Umsetzung des Paktes verpflichten. Dort ist von Selbstbestimmung dann gar nicht mehr die Rede. Überdies beruft sich der Pakt bereits in seiner Präambel auf hochrangige und rechtlich bindende völkerrechtliche Normen, etwa auf die UN-Charta, die Menschenrechtserklärung, diverse Menschenrechtspakte, sogar auf die Konvention gegen Sklaverei. Eigentlich kann man das nur so verstehen, daß der Pakt für sich beansprucht, diese völkerrechtlichen Normen für das Problem der Migration zu konkretisieren. Sprich, uns zu sagen, was diese bindenden Völkerrechtsnormen gerade im Hinblick auf die Rechte der Migranten zu bedeuten haben. Wenn dieser Eindruck richtig ist, dann verträgt sich das überhaupt nicht mit dem Postulat, er sei lediglich eine politische Absichtserklärung.

In einer Argumentationshilfe der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für ihre Abgeordneten heißt es, der Pakt sei auch deshalb  im Interesse Deutschlands, weil er helfe, endlich konsequent zwischen legaler und illegaler Einwanderung zu unterscheiden.

Vosgerau: Ja, aber das ist so nicht richtig. Und zwar schon deswegen, weil der Global Compact den Begriff der „illegalen Einwanderung“ auffälligerweise gar nicht kennt. Es ist dort allenfalls von Migranten die Rede, die in einen „irregulären Zustand gefallen“ sind. Dies gilt dem Pakt jedoch nicht als Fehlverhalten des Einwanderers, sondern bezeichnenderweise als ein Versagen des Aufenthaltsstaates, der den Migranten nicht rechtzeitig legalisiert hat. Folge dieses „irregulären Zustandes“ ist gemäß Global Compact ergo auch nicht eine Ausweisung, sondern die Pflicht des Aufenthaltsstaates, Verfahren anzubieten, die normalerweise zur Legalisierung des Status des Einwanderers führen. Und dies erinnert mich sehr an den Programmsatz von Angela Merkel: „Wir wollen aus illegaler Einwanderung legale machen.“  






Dr. Ulrich Vosgerau, der habilitierte Staats-, Völker- und Europarechtler sowie Experte für Öffentliches Recht lehrte an den Universitäten Köln, München, Hannover, Passau und Halle-Wittenberg. 2016 legte er in seinem Buch „Staatliche Gemeinschaft und Staatengemeinschaft“ als erster deutschsprachiger Völkerrechtler eine auf das Selbstbestimmungsrecht aufbauende Grundlagen- und Geltungstheorie des Völker- und Europarechts vor. Geboren wurde er 1974 in Pinneberg.

Foto: Globale Migration: „Vom Tag der Unterzeichnung an werden Sie in den Medien das Gegenteil dessen lesen, was diese jetzt schreiben. Fragen Sie dann mal die Grünen oder die EKD, die werden sagen: Das ist verbindlich! (...) Der Pakt soll unsere migrationspolitischen Legitimitätsvorstellungen ändern. Aus unverbindlichen Erklärungen wird zwingendes Völkergewohnheitsrecht“

 

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