© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/18 / 09. November 2018

Am globalen Reichtum teilhaben
Solidarity Cities: Netzwerken für ein neues Miteinander, das Illegalen Zugang zu städtischen Dienstleistungen gewährt und die Grenzen öffnet
Christian Schreiber

Ihre Vorbilder sitzen in den USA oder in Kanada, und sie sind Teil der sogenannten Einwanderungs-Lobby. Sie setzen sich ein für eine Stadt, aus der kein Mensch abgeschoben wird und in der alle das gleiche Recht auf Teilhabe haben. In 14 Städten in Deutschland gibt es solche „Solidarity City“-Initiativen bereits, Tendenz steigend.

Die Bewegung gibt es seit den siebziger Jahren. „Weltweit haben sich 250 Städte zu Zufluchtsstädten erklärt, die allen einen Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen gewährleisten wollen und die sich weigern, an Repressionsmaßnahmen gegen Illegalisierte und an Abschiebungen mitzuwirken“, heißt es in der Selbstbeschreibung einer Gruppe aus Freiburg. Die Bezeichnungen seien „Zufluchtsstädte, Cities of Sanctuary oder Solidarity Cities – das Konzept ist im Grunde dasselbe.“ Aktuelle Studien würden belegen, daß Sanctuary Cities in den USA im Durchschnitt ein höheres Haushaltseinkommen, weniger Arbeitslosigkeit und Kriminalität hätten im Vergleich mit Gemeinden, die sich nicht am Netzwerk beteiligen.

Eine „lebenswerte Stadt für alle Bewohner“

Manche Städte gewähren dabei allen Bewohnern Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen und weigern sich beispielsweise, an Abschiebungen mitzuwirken. Das Konzept ist auch in Deutschland nicht neu. Frankfurt am Main und Hannover sind dabei die Vorreiter. Beide sind Mitglied im ICORN, dem Internationalen Städte-der-Zuflucht-Netzwerk. Es wurde Anfang der neunziger Jahre gegründet, als die damalige Bundesregierung eine Verschärfung der Asylgesetzgebung beschloß.

Mittlerweile gibt es die solidarische Stadt in mehreren deutschen Kommunen. Die genaue Rechtsform bleibt allerdings in vielen Fällen ungenau. „Es ist eher ein Netzwerk oder ein Ideal“, erklärt die Osnabrücker Sprecherin Sarah Marks. „Bei Solidarity City denke ich an alle Menschen in der Stadt. Geflüchtete, Menschen, die auf der Straße leben – alle sollen teilhaben können.“ Es gehe darum, Mitspracherechte zu ermöglichen, sozialen Wohnraum oder Barrierefreiheit im weitesten Sinne.

Die ursprüngliche Bewegung entwickelte sich vor mehr als 40 Jahren aus verschiedenen religiösen und säkularen Initiativen heraus in den USA und Kanada: Sanctuary Cities. „Sancturay“ steht für Zufluchtsort, Schutzgebiet und Freistätte. Heute gibt es mehr als 300 Sanctuary Cities in den USA. Seit 2007 hat sich auch in England und Irland eine solche Bewegung entwickelt, zu der mittlerweile über hundert Gruppen gehören.

Das Vorbild der modernen Form stammt aus dem kanadischen Toronto. 2013 erklärte die dortige Stadtregierung  Toronto offiziell zur „Sanctuary City“. Menschen ohne Dokumente müssen dort nicht fürchten, daß die Polizei ihren Aufenthaltsstatus überprüft.

Die Gruppen, sofern sie auf dem Gebiet der Bundesrepublik aktiv sind, weisen gerne darauf hin, daß sie legale Formen des Protestes bevorzugen. Mehr oder weniger unverhohlen wird aber zumindest zur Rechtsbeugung aufgerufen. „Die Stadt ist die Erteilerin sozialer und struktureller Services des Alltäglichen. Arbeit, Wohnen, Freizeit und Sozialkontakte spielen sich in diesem Raum ab“, heißt es im Manifest der Freiburger Gruppe. Für viele Migranten seien die Städte Orte der Ankunft: „Um so logischer und leichter ist es, politische Veränderungen auf der lokalen Ebene anzusetzen: Sie ist überblickbar, alltäglich und nah. In Freiburg ist viel los, und es gibt viele Menschen und Organisationen, die sich für Rechte und Versorgung von Geflüchteten, sozial schlechter gestellten und ausgegrenzten Menschen einsetzen. Diese Gruppen wollen wir zusammenführen und ihre Kräfte bündeln“, heißt es weiter.

Die Idee sei, eine lebenswerte Stadt für alle ihre Bewohner zu schaffen. Eine soziale Gemeinschaft, wie es Städte seien, funktioniere am besten, wenn alle, die darin lebten, dort auch ihr Leben wirklich gestalten könnten: „Das heißt wohnen, sich versorgen, arbeiten und sich vernetzen können. Wir akzeptieren nicht, daß dies nur für Menschen mit dem richtigen Paß und dem nötigen Kapital erfüllbar sein soll.“

Ziel der vernetzten Gruppen sei es,  die Vorgaben nationalstaatlicher Politik zu hinterfragen und eine eigenständige Position im Umgang mit Menschen ohne gesichertes Aufenthaltsrecht zu erarbeiten. Es handele sich um ein kommunalpolitisches Konzept mit dem Ansinnen, alle Bewohner einer Stadt oder Gemeinde als Bürger anzuerkennen. „Die kommunale Politik und Verwaltung verpflichtet sich, Verantwortung für ihre Bürger zu übernehmen, und dies ganz ausdrücklich unabhängig von ihrem jeweiligen aufenthaltsrechtlichen Status“, lautet die zentrale Forderung.

Von der ursprünglichen eher religiösen Motivation haben sich zumindest die deutschen Gruppen mittlerweile ziemlich weit entfernt. Die Übergänge in den autonomen und linksextremen Bereich sind dabei fließend. „Es geht um einen materiellen Prozeß, den es zu einer konkreten Vision zu verdichten gilt, die sowohl der neoliberalen Austeritätspolitik wie auch dem Rechtspopulismus die Alternative einer offenen und solidarischen Gesellschaft entgegenstellt“, heißt es beispielsweise in einer Erklärung der Frankfurter Gruppe. „Über allem steht der Schutzaspekt, daß Menschen in der Stadt keine Angst vor Abschiebung haben müssen“, sagt Nadine Henkel, eine der Sprecherinnen des Aktionsbündnisses gegenüber der Frankfurter Rundschau. „Wir wünschen uns ein solidarisches Miteinander, in dem Grenzen innerhalb der Stadtbewohnerschaft aufgeweicht werden.“

„Don’t ask, don’t tell“, („Frage nicht, sage nichts“) sei das Ziel der Solidarity Cities. In Schulen, Behörden oder Arztpraxen solle nicht nach dem Aufenthaltsstatus von Menschen gefragt oder dieser an Behörden weitergeleitet werden.

Fernziel der Gruppen ist es, daß sich gemäß dem Vorbild Toronto Stadtverwaltungen dazu verpflichten, ihre kommunalen Dienstleistungen allen Bewohnern zugänglich zu machen, „ohne daß sie aufgrund ihres prekären Aufenthaltsstatus Furcht vor Sanktionen (Inhaftierung, Abschiebung) haben müssen. Zudem sollen Menschen mit unsicherem Aufenthaltsstatus befähigt werden, rechtliche Möglichkeiten gegen drohende Abschiebungen auszuschöpfen und deshalb gegebenenfalls auch durch Widerstände gegen staatliche Maßnahmen vor Abschiebung geschützt werden“.

Die Städte würden sich dadurch definieren, daß die Stadtregierung die Polizei unterweise, keinen Menschen in bezug auf den Aufenthaltsstatus zu kontrollieren. Dadurch entstehe ein faktisches Bleiberecht in der Stadt. Den deutschen Aktivisten der Einwanderungslobby schwebt offenbar eine Art Graswurzelbewegung vor. Die Selbstdeklaration einer Gemeinde oder Stadt als „Sanctuary City“ habe vor allem symbolischen Charakter, der jedoch politisch bedeutsam sei, da sich wichtige politische Vertreter großer Städte und Gemeinden beteiligen und Forderungen an die nationale Politik damit einhergehen würden.

„Angestrebt wird die Entfaltung einer lokalen Basisbewegung, die von möglichst vielen Menschen aus unterschiedlichen Bereichen (Freiwillige, Wirtschaft, Bildung, religiöse Gruppen) getragen wird. Damit einhergehend soll ein Selbstverständnis der Städte und Gemeinden entstehen, das von Offenheit geprägt ist und auch von Stolz, Menschen, die sich in einer sehr schwierigen Lebenssituation befinden, Schutz zu bieten“, heißt es in einer weiteren Erklärung.

Im aktuellen politischen Alltag sind vor allem aus den Reihen der Linkspartei Forderungen zu hören, deutsche Kommunen sollten sich zur „Solidarischen Stadt“ erklären. Besonders kontrovers ging es kürzlich im Rat der Landeshauptstadt Kiel zu. Die Flüchtlingsfrage sei nur auf europäischer Ebene zu klären, legte die Stadtverwaltung während einer hitzigen Debatte dar. Kiel habe sich weit über das gesetzlich Nötige für Flüchtlinge engagiert. Die Linke hatte beantragt, Kiel zum sicheren Hafen und zur „Solidarity City“ für in Seenot geratene Flüchtlinge auszurufen. Die linke Ratsfrau Margot Hein appellierte, ein gemeinsames Zeichen gegen die „menschenverachtende Abschottungspolitik der Europäer“ zu setzen. Doch im hohen Norden stieß die Forderung auf offenen Widerspruch. Hinter der Kampagne stünden auch politisch strittige Forderungen wie nach dem Wegfall von Ausweiskontrollen, kritisierte CDU-Fraktionschef Stefan Kruber, und AfD-Ratsherr Eike Reimann bezeichnete den gesamten Antrag als „gefährlichen Blödsinn“.

Und so ist auch die Stimmung unter den Aktivisten auf Bundesebene nicht gerade euphorisch. „Dabei herrscht gleichsam eine Untergangsstimmung, die die Abschaffung des Asylrechts wittert und sich darauf vorbereiten will“, heißt es in einem Beitrag. Eine Stuttgarter Initiative befürchtet, „ist erst einmal durchgesetzt, daß in Länder wie Afghanistan abgeschoben werden kann, hat man sich erst daran gewöhnt, dann kann in jedes Land abgeschoben werden. Dann ist das Asylrecht endgültig abgeschafft.“

Kampf gegen „Neoliberale und Rechtsextreme“  

Dennoch zeigt sich die Linke kämpferisch, um den Anspruch der Migranten auf „Teilhabe am globalen Reichtum“ politikfähig zu machen. Wichtig, so Stefanie Kron, Referentin für Internationale Politik und Soziale Bewegungen der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS), und Henrik Lebuhn, Redaktionsmitglied der maxistischen Zeitschrift Prokla, seien vor allem „neue oder verstärkte Bündnispolitiken, beispielsweise mit der entwicklungspolitischen Zivilgesellschaft, aufgeschlossenen Verwaltungen und progressiven Politiker*innen auf den nationalen und regionalen Ebenen“.

Nur so könnten „globale Bewegungsfreiheit in den Katalog der verbrieften Menschenrechte gelangen“ und „globale soziale Rechte über einzelne urbane Räume hinaus umgesetzt werden, erklären die beiden Autoren eines Papiers über die Solidarity-Bewegung. „Eine wachsende Zahl von Politiker*innen und Aktivist*innen der stadtpolitischen Bündnisse weiß inzwischen, daß Kämpfe der Migration und Politiken der Stadtbürger*innenschaft keine Partikularinteressen bedienen, sondern gerade das gemeinsame Interesse (vermeintlich) unterschiedlicher Gruppen betonen, nämlich soziale Gerechtigkeit.“ 

Gerade mit der Verknüpfung der Forderung nach dem Recht auf Bewegungsfreiheit und den globalen sozialen Rechten in der Stadt, so Kron und Lebuhn weiter, eröffne sich die Möglichkeit, den „neoliberalen und rechtsextremen europäischen Eliten eine solidarische Antwort entgegenzusetzen, die sich der Spaltung in ‘wir Europäer’ oder ‘wir Deutsche’ versus ‘die Anderen’ erfolgreich“ zu entziehen vermöge.





„United“ – „#unteilbar“ – „solidarisch“ 

Das Netzwerk Solidarity City wurde Ende 2015 gegründet. Linke Gruppen in Berlin wollen aus der Hauptstadt eine „Solidarische Stadt“ machen, die Menschen mit „eingeschränktem oder undokumentiertem Rechtsstatus“ Zugang zu städtischen Dienstleistungen gewährt. Entsprechend war „Solidarity City Berlin“ Teil des Netzwerks der „United Against Racism – We‘ll Come United“ am 29. September in Hamburg sowie der „#unteilbar“-Demonstration am 13. Oktober in Berlin („Kommt mit uns zum antirassistischen Block auf der #unteilbar – Großdemonstration“).  Neben den üblichen Kandidaten der „Zivilgesellschaft“ (Politiker von Linkspartei bis SPD, Kirchenverbände, Gewerkschaften, Journalisten und Künstler) gaben hier auch gewaltbereite Linksextremisten und reaktionäre Islamverbände ihr Stelldichein. Auch die Interventionistische Linke (IL), laut Verfassungsschutz  „Scharnier zwischen militanten Gruppierungen und nicht gewaltorientierten Linksextremisten“, ist neben Antifa-Gruppen als Erstunterzeichner gelistet (JF 40/18). Stolz verkündet ein Solidarity-Cities-Positionspapier, daß Aktionen wie „We`ll Come United“ im Konzept der „Sichtbarmachung der Alltagskämpfe und Trans-Community-Mobilisierung“ eine wichtige Rolle zukomme. 

solidarity-city-berlin.org