© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/18 / 09. November 2018

Schüchterne Versuche
Ambivalenz der Moderne: Annäherungen an den „völkischen“ Schriftsteller Gustav Frenssen
Dirk Glaser

Der Roman um einen holsteinischen Bauern auf Sinnsuche, „Jörn Uhl“, 1901 gleichzeitig mit Thomas Manns „Buddenbrooks“ erschienen, bescherte Gustav Frenssen schlagartig Ruhm und Reichtum. Mit 140.000 verkauften Exemplaren binnen Jahresfrist hängte sein Verfasser den jüngeren Münchner Mitbewerber um die Lesergunst zunächst lässig ab. Überhaupt gehörte die erste Dekade des neuen Jahrhunderts der deutschen Literaturgeschichte ganz dem Pastor aus Dithmarschen, dem es die „Jörn Uhl“-Honorare erlaubt hatten, den Talar an den Nagel zu hängen, um mit seiner freidenkerischen Christus-Adaption „Hilligenlei“ (1905) sowie mit dem Kolonialroman „Peter Moors Fahrt nach Südwest“ (1906) die Serie weiterer Erfolgsbücher zu starten. Als Frenssen im April 1945 starb, bis zuletzt an den „Endsieg“ glaubend, lag die Gesamtauflage seiner in sechzehn Sprachen übersetzten Werke bei 3,5 Millionen.

Nach 1945 unter Quarantäne gestellt 

Genauso plötzlich, wie die Geschichte seines Ruhms im Kaiserreich begann, endete sie jedoch mit dem Untergang des 1871 gegründeten Deutschen Reiches. Nach 1945 war der Schriftsteller Gustav Frenssen ein toter Hund. Allein als literarischer Exponent des, wie es im „antifaschistischen“ Jargon ahistorisch simpel heißt, „völkischen, rassistischen, kolonialimperialistischen, antisemitischen Irrwegs“ des deutschen Volkes, erregt Frenssen bis heute bisweilen die Aufmerksamkeit grobianischer „Ideologiekritiker“. Diesen über ihn verhängten Bann vermochte auch ein Plädoyer des sonst mit seinem „Gegenkanon“ der zu Unrecht vergessenen Kollegen so einflußreiche Arno Schmidt nicht zu brechen, der 1963, zum 100. Geburtstag, in einem seiner Funkessays Frenssen zum „unerledigten Fall“ erklärte, der eine partielle Revision verdient habe.

Trotzdem blieb von Schmidts Appell zugunsten des „politisch notorisch Denkschwachen“, der Gerechtigkeit forderte zumindest für den Verfasser des Monumentalromans „Otto Babendiek“ (1926), diesem „guten Meisterstück zweiten Ranges“, ein Stachel. Der Literaturhistoriker in jüngerer Zeit antrieb, sich wieder mit Frenssen zu befassen. Diese auflebende Neugier hat nun in der von den Göttinger Germanisten Heinrich Detering und Kai Sina herausgegebenen, Frenssen zum Gegenstand einer „Fallstudie zu Moderne und Antimoderne“ wählenden Aufsatzband ihren recht erfreulichen Niederschlag gefunden. Völlig abwegig ist nur der Titel „Kein Nobelpreis für Gustav Frenssen“, denn dieser inzwischen skandalumwitterte, deswegen 2018 nicht verliehene „Meisterbrief der Gehobenen Mittelmäßigkeit“ (Arno Schmidt) spielt bei keinem Beiträger eine erhebliche Rolle. Frenssen stand zwar bis etwa 1920 immer wieder auf der Kandidatenliste der Stockholmer Akademie, argwöhnte auch bis zuletzt, nur aus politischen Gründen übergangen worden zu sein, aber für die heutige Beschäftigung mit dem Autor taugt diese schwedische Anekdote nicht einmal als Aufhänger.

Die eigentliche Stärke des Bandes liegt darin, Wege aufzuzeigen, um handelsübliche „ideologiekritische“ Schablonen hinter sich zu lassen. Nicht von ungefähr ist daher „Ambivalenz“ in jedem der zehn Aufsätze eine Art Signalwort. Mit der Betonung solcher „Zwiespältigkeit“ von Leben und Werk Frenssens folgen die Interpreten einem in der Forschung seit den 1980ern etablierten Paradigma, das die zu wilhelminischer Zeit entstandenen völkischen Bewegungen ebenso wie den Faschismus und den Nationalsozialismus als „ambivalente Phänomene der Moderne“ (Riccardo Bavaj) begreift.

Außerhalb des Fachdiskurses fand diese historisierende Emanzipation von eingeschliffenen Mustern der Vergangenheitsbewältigung indes nur geringe Resonanz. Vielmehr dominiert dort weiter, bis hinab in die Skandalisierung von Straßen- und Kasernennamen, der täglich sich verschärfende, genuin historisches Bewußtsein zerstörende Druck Politischer Korrektheit. Deren Wächter ahnen, daß „frei ist, wer um sich selbst und seine Geschichte weiß“ (Walther Schönfeld, 1927).

Vor diesem Hintergrund sind die hier versammelten Annäherungen an den bisher unter Quarantäne gestellten, scheinbar eindeutigen „NS-Vordenker“, schüchterne Versuche, die Freiheit des historischen Urteilens zurückzugewinnen. An Frenssens Beispiel sei zu lernen, wie Helmuth Kiesel eingangs ausführt, wie untrennbar Moderne und Antimoderne zusammengehören. Weil selbst bizarre rassenhygienische Zuchtideale in allen kapitalistischen, sozialistischen und faschistischen „Weltbemächtigungsphantasien der Moderne“, die sich gegenwärtig etwa in Transhumanismus-Visionen entladen, ihre Entsprechung fänden. Die Lektüre vermeintlich antiquierter „Heimatromane“ und begleitender Bekennerprosa wie Frenssens „Glaube der Nordmark“ (1936) führe also mitten hinein in die „abgründige Komplexität“ unseres „modernen Zeitalters“.

Heinrich Detering/Kai Sina (Hrsg.): Kein Nobelpreis für Gustav Frenssen. Eine Fallstudie zu Moderne und Antimoderne, Boyens Buchverlag, Heide/Holstein 2018, gebunden, 288 Seiten, Abbildungen, 24 Euro