© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/18 / 09. November 2018

Über die Verdrängung der kommunistischen Verbrechen aus dem Bewußtsein
Geschichtswäsche
Nicolaus Fest

Letztes Jahr kandidierte ich für den Deutschen Bundestag. Der Wahlkampf führte mich auch in ein halbes Dutzend Berliner Gymnasien und zu noch mehr privaten Veranstaltungen mit Schülern und Studenten. Überall ging es auch um Björn Höckes „180-Grad-Wende in der Erinnerungspolitik“. Die Fragen waren scharf und unfreundlich. Das war in Ordnung. Solche Begegnungen sollen helfen, Positionen zu klären.

Wann immer es die Gesprächssituation erlaubte, bat ich darum, meinerseits drei einfache Fragen zu stellen, um mir ein Bild vom jeweiligen Gesprächspartner machen zu können. Mal fragte ich nach der Emser Depesche, mal nach den Beneš-Dekreten, mal nach den Namen der Staatsratsvorsitzenden der DDR. Was die Goldene Bulle sei und von wann bis wann wirksam, was das „Wunder des Hauses Brandenburg“? Wann, durch wen und wo die Weimarer Republik ausgerufen wurde, mit welchem Vertragswerk der Dreißigjährige Krieg endete oder welche Einheit die SED in ihrem Namen beschwöre?

All diese Fragen betrafen Gegenstände der selbstverständlichsten Bildung. Dennoch war das Ergebnis niederschmetternd: Herumgestochere, Ähs und Ohs, dann das Bekenntnis, daß man das gerade nicht wüßte. Nur wenige junge Leute stachen heraus – sie interessierten sich für Geschichte. Alle anderen gehörten zur Generation Google. Unvergeßlich die Antwort auf die Frage, welches Ereignis 1968 die Länder hinter dem Eisernen Vorhang erschütterte: „Da wurde“, so die Befragte treuherzig, „meine Mutter geboren.“

Es herrschte historische Demenz. Wesentliche Momente der deutschen, der europäischen Geschichte waren unbekannt, von der außereuropäischen Historie ganz zu schweigen. Nicht einmal vom Dritten Reich wußten die Schüler mehr als nur Stichworte: Hitler, Weltkrieg, Holocaust. Warum sich beispielsweise die Nazis „Sozialisten“ nannten oder welche Folgen der „Röhm-Putsch“ hatte, war allen Hekuba.

Mit Menschen, die keine Erinnerung haben, kann man nicht über Vergangenheit reden. Das sagte ich den Schülern: Ihre Furcht vor einer „Erinnerungswende“ sei unbegründet. Denn auch eine Wende setze voraus, daß man überhaupt in irgendeine Richtung segele. Sie aber lägen fest vertäut im Hafen des historischen Analphabetismus.

Warum die Schule als Ort der historischen Navigation ausfällt, wurde ebenfalls deutlich. Denn die Antworten der Schüler gingen immer in dieselbe Richtung: Nicht Kenntnis war wichtig, sondern Urteil: Krieg böse, Armut böse, Kolonialisierung böse, Kapitalismus böse. Daß es Zeiten gab, in denen Krieg keineswegs als etwas Schlechtes begriffen wurde, daß Ruhm, Ehre oder dynastische Fragen über viele Jahrhunderte schwerer wogen als humanitäre Erwägungen und daß Armut nichts war, was um 1700 und davor irgendeinen Politiker schlecht schlafen ließ, konnte sich kaum einer der jungen Leute vorstellen.

So erscheint Geschichtsunterricht als Moralkunde. Nicht die Orts- und Zeitgebundenheit der eigenen Position vor dem Panorama vergangener Zeiten wird vermittelt, nicht die Kenntnis, „wie es eigentlich gewesen ist“. Statt dessen dient Geschichte als Brevier zur moralischen Selbsterhöhung.

Der Spiegel war nur selten „Sturmgeschütz der Demokratie“, oft aber Stalinorgel linker Propaganda. Auch heute warnt das Blatt regelmäßig vor den Gefahren des Kapitalismus; die sozialistische Verelendung Venezuelas taugte nie zum Titelthema.

Doch wo allein Moral herrscht, ist Unterricht keine Unterrichtung, sondern Indoktrination. Jede Moral hat die Tendenz zur Reduktion auf Gut und Böse, Schwarz und Weiß. Vermutlich ist deshalb das Dritte Reich als Gegenstand der Betrachtung so beliebt, entspricht es doch dieser Simplifizierung. Schon Thomas Mann bemerkte, der Nationalsozialismus habe in gewisser Hinsicht die Welt radikal vereinfacht: Man war entweder dafür oder dagegen. Ein Drittes gab es nicht.

Wenn das eine schwarz ist, muß das andere weiß sein. Das dürfte, neben dem seit Jahren zu beobachtenden Linksruck von Universitäten und Schulen, einer der Gründe sein, warum die kommunistischen Verbrechen so ausgeblendet sind. Der Name Pol Pot war den meisten Schülern so wenig bekannt wie der stalinistische Hungerterror oder die 50 Millionen Opfer Maos.

Ebenso ist die Geschichte der DDR gleichsam miniaturisiert – und damit ihre Verbrechen. Und wie beim Nationalsozialismus ist die Kenntnis reduziert auf Stichworte, vor allem: Mauer und Stasi, wobei die Stasi als bösartige Entartung gilt, als Staat im Staat, der irgendwie aus dem Ruder lief. Daß die Stasi Konsequenz eines totalitären Regimes ist, daß jedes sozialistische Land über vergleichbare Organisationen verfügte, war keineswegs allen klar. NKWD, Securitate, der tschechische StB sind so vergessen wie der Mord am polnischen Priester Jerzy Popieluszko durch den Geheimdienst seines Landes. Klar ist nur: Die Nazis waren schlimmer.

Dieses Vergessen spiegelt sich im öffentlichen Raum. Stolpersteine für Opfer des Kommunismus gibt es nicht, auch kaum Gedenktafeln. Rudi Dutschke, dem Vordenker der RAF, sind allein in Berlin zwei Straßen gewidmet; dem sozialdemokratischen Minister Gustav Noske, der die Republik gegen Spartakus verteidigte, von den Nazis aus dem Dienst entlassen und mehrere Monate inhaftiert wurde, keine einzige. In Konzentrationslagern wird zwar der Opfer der Nationalsozialisten erinnert, nicht aber jener, die hier nach 1945 von Kommunisten gequält und ermordet wurden. Der Kampf Stauffenbergs gegen Hitler ist jedes Jahr Thema für Feuilletons und Reden; der 17. Juni wurde entsorgt – und damit jedes wiederkehrende Erinnern an Maueropfer, Fluchthelfer und all jene, die sich dem Regime der SED entgegenstellten. Wenn linksextreme Altkader sich zum Gedenken an Rosa Luxemburg versammeln, wird freundlich berichtet, in Trier Karl Marx ein Denkmal errichtet, ohne daß die Opfer des Kommunismus Erwähnung finden.

Christdemokratische Ministerpräsidenten plädieren für Koalitionen mit den Demokratiefeinden der Linkspartei. Und auch der Rentenbetrug an jenen Menschen, die die DDR unter großen Repressalien verließen und dafür von der Regierung Merkel deutlich schlechter gestellt werden als Mitläufer und Stützen des Honecker-Regimes, macht deutlich, wem die Sympathien der Herrschenden gelten.

Nicht wenige Historiker haben in der personellen Kontinuität der ostdeutschen Altkader die Hauptursache für die linke Geschichtswäsche gesehen. Daß die SED-PDS-DIE LINKE nach dem Zusammenbruch der DDR nicht wie die NSDAP 1945 verboten wurde, war sicherlich ein Fehler. Doch bleibt die Frage, ob sich dadurch am Kurs der Erinnerungspolitik etwas geändert hätte. Denn die Entsorgung der kommunistischen Verbrechen war auch im Westen längst angelaufen, bei SPD, Grünen und den Medien. Der „Archipel Gulag“, das „Schwarzbuch des Kommunismus“ oder der Film „The Killing Fields“ schlugen ja nicht deshalb hohe Wellen, weil die dort dokumentierten Verbrechen zum Standardwissen gehörten. Sie taten es, weil kaum jemand das wahre Ausmaß des sozialistischen Mordens kannte.

Presse und „Rotfunk“ beschäftigten sich zwar häufig mit Pinochet, Franco und dem Apartheid-Regime in Südafrika, nicht aber mit dem Terror hinter dem Eisernen Vorhang oder auf Kuba. Noch im Herbst 1989, unmittelbar vor dem Fall der Mauer, fabulierte die Zeit über die Zuneigung der Ostdeutschen zum Staatsratsvorsitzenden, den sie „liebevoll Honi nennen“. Und der Spiegel war nur selten „Sturmgeschütz der Demokratie“, oft aber Stalinorgel linker Propaganda. Auch heute warnt das Hamburger Blatt regelmäßig vor den Gefahren des Kapitalismus; die sozialistische Entdemokratisierung und damit verbundene Verelendung Venezuelas taugte nie zum Titelthema.

So muß man sich um die Freiheit Sorgen machen. Denn sie ist immer das erste Opfer des Sozialismus, im immer gleichen Dreischritt: Erst kommt die Freiheit des Eigentums unter die Räder, dann die der Meinung, schließlich die individuelle.

Die Sympathien der Deutschen für den Sozialismus und die Ausblendung aller seiner menschenfeindlichen Konsequenzen ist jedoch kein neues Phänomen. Schon Ludwig Erhard kämpfte gegen größte Widerstände, um eine halbwegs freie Wirtschaftsordnung durchzusetzen. SPD und Union präferierten den paternalistischen Versorgungsstaat. Freie Marktwirtschaft galt ihnen als Synonym für Hyperinflation und Weltwirtschaftskrise.

Und vielleicht liegt hier der Schlüssel. Wenn sich, wie manche meinen, schwere traumatische Erfahrungen genetisch verankern, könnten nicht nur Pest und Dreißigjähriger Krieg, sondern auch die wirtschaftlichen Schreckensjahre 1923 und 1929 die Deutschen geprägt haben. Das würde erklären, warum trotz des immer neuen Scheiterns sozialistischer Experimente die Marktwirtschaft in Deutschland kaum Anhänger hat; warum die terroristischen Seiten linker Gesellschaftsmodelle heruntergespielt, die freiheitlichen Aspekte des Kapitalismus ignoriert werden; und warum keine Partei mit dem Versprechen auf Steuersenkungen, Bürokratieabbau und weniger Staat reüssiert.

Auch heute sind Wohlfahrt und dirigistische Eingriffe für viele Parteien treibende Überlegungen. So muß man sich um die Freiheit Sorgen machen. Denn sie ist immer das erste Opfer des Sozialismus, im immer gleichen Dreischritt: Erst kommt die Freiheit des Eigentums unter die Räder, dann die der Meinung, schließlich die individuelle.

Die Attacken auf Eigentum und Privatautonomie sind überall zu bemerken, sei es im Miet- oder Arbeitsrecht. Auch das Kulturschutzgesetz ist ein klarer Eingriff ins Eigentum, ebenso wäre es die von SPD, Grünen und Linke immer erneut erörterte Vermögenssteuer. Wie wenig der Staat das Eigentum achtet, zeigt exemplarisch die rechtswidrige Beschlagnahme der Sammlung Gurlitt. Die FAS konstatierte russische Verhältnisse. Doch niemand protestierte.

Ebenfalls bedroht ist die Meinungsfreiheit. Im Netz durch das NetzDG, in den Medien durch offen parteiische Berichterstattung, in der Öffentlichkeit durch die Antifa und das beredte Schweigen der Altparteien zu ihren terroristischen Einschüchterungen. In der Jurisdiktion durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH), politisch durch die Kanzlerin, die nun auch „Haß-Sprache“ im Bundestag sanktionieren will. Ähnlich instrumentalisierten die Nationalsozialisten den Begriff der „Heimtücke“ gegen „Meckerer“ und „Miesmacher“. So rundet sich das Bild.

Von der Einschränkung der Meinungs- zu der der individuellen Freiheit ist es dann nur noch ein kleiner Schritt. Unerwünschte Äußerungen kann man nicht nur mit Geldstrafen belegen. Der endemische Mißbrauch des Volksverhetzungsparagraphen zeigt bereits, wohin der Weg geht. 






Dr. Nicolaus Fest, Jahrgang 1962, arbeitete seit 2001 bei der Bild-Gruppe, von 2013 bis 2014 als stellvertretender Chefredakteur der Bild am Sonntag. Zuvor war der an der Humboldt-Universität zu Berlin promovierte Jurist einige Jahre für das Auktionshaus Sotheby’s und später für die Verlage Ebner Pressegesellschaft sowie Gruner + Jahr tätig. 2017 trat Fest in Berlin für die AfD zur Bundestagswahl an. Bei dem nebenstehenden Text handelt es sich um die gekürzte Fassung eines Vortrags, den der Autor am 30. Oktober in der Berliner Gedenkbibliothek zu Ehren der Opfer des Kommunismus gehalten hat.

Foto: Große Karl-Marx-Statue in Trier; Blick in eine Zelle des DDR-Frauengefängnisses Hoheneck; Berliner Mauergedenkstätte mit Porträts der Opfer der deutschen Teilung; eine alte Frau beim Holodomor-Opfergedenken in Saporischschja, Ukraine; Totenschädel aus dem kambodschanischen Vernichtungslager Choeung Ek: Die Erinnerung an kommunistische Verbrechen ist marginalisiert, und klar scheint nur: Die Nazis waren schlimmer