© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/18 / 09. November 2018

„Daumen aufs Auge und Knie auf die Brust!“
Die Blaupause für eine bolschewistische Revolution in Deutschland 1918: Die „Rote Fahne“ und das Manifest des Spartakusbundes
Walter T. Rix

Die Monarchie brach zusammen und die Macht glich einem Ball, den der stärkste Spieler in seine gewünschte Richtung lenkt. Was sich zu Beginn des Ersten Weltkrieges als überschäumende nationale Begeisterung gezeigt hatte, erwies sich sehr schnell als Hülle, die mit der Verschlechterung des Kriegsverlaufes und der Ernährungslage zerbrach. 

Um so verhängnisvoller wirkten sich die bislang überlagerten Gegensätze aus. Am 11. November 1918 unterzeichnete Matthias Erzberger als Bevollmächtigter der Reichsregierung in Compiègne die Waffenstillstandsbedingungen der Entente, die Voraussetzung für den Vertrag von Versailles. Für das Reich bedeutete dieser Siegerbeschluß von 1919 Demütigung und Ausplünderung. Am 28. November 1918 erklärte Kaiser Wilhelm II. in aller Form seinen Verzicht auf den deutschen und preußischen Thron. Während die Ereignisse wie ein Schock auf die Bürgerlichen wirkten und diese deshalb unschlüssig und zunächst kaum handlungsfähig waren, hatten die Sozialisten schon lange darauf hingearbeitet und griffen zielbewußt nach der Macht. 

Allerdings hatten sie sich gespalten in Mehrheitssozialisten (SPD), Unabhängige Sozialdemokraten (USPD), und den Spartakusbund. Während die Mehrheitssozialisten im „Rat der Volksbeauftragten“ unter Friedrich Ebert danach trachteten, eine verfassungsgebende Nationalversammlung für den 19. Januar 1919 einzuberufen, aus der das Parlament hervorgehen sollte, setzten die Linksradikalen alles daran, dies zu unterbinden, weil sie vorher grundlegende Veränderungen durchsetzen und vor allem eine Gegenrevolution verhindern wollten. 

In dieser kritischen Lage wurde Karl Liebknecht am 23. Oktober 1918 vorzeitig aus der Haft entlassen, und Rosa Luxemburg kam am 8. November 1918 aus einer Breslauer Haftanstalt frei. Liebknecht machte sich unverzüglich an die Reorganisation des Spartakusbundes und leitete zusammen mit Rosa Luxemburg eine bis dahin beispiellose Agitation ein. Alles, was sich bei ihnen auch während der Haftzeit angestaut hatte, warfen sie jetzt mit geballter Rhetorik in den Kampf, oft mit religiösen Untertönen. Ihr Sprachrohr war Die Rote Fahne, deren Schriftleitung sie gemeinsam betrieben. Allerdings waren ihnen kaum mehr als siebzig Tage bis zu ihrem Tode vergönnt. Doch die ausgemergelten Massen schenkten ihnen in dieser Zeit begierig Gehör. 

Die Spartakisten rüsteten für den Entscheidungskampf

Für die Zeit zwischen Agitationsbeginn und Tod ist die Ausgabe Nr. 29 der Roten Fahne vom 14. Dezember 1918 ein besonders aufschlußreiches Zeitdokument, weil sie in einem entscheidenden Abschnitt der politischen Entwicklung Rechtfertigung, Ideologie und Kampfanweisung manifestartig wiedergibt und gleichzeitig einen Fahrplan liefert für die Ereignisse, die kommen sollten. Befeuert wurde das Geschehen nicht nur durch das bolschewistische Beispiel im Osten, sondern auch durch gewaltige und verdeckte Geldflüsse. 

Am 5. November 1918 wurde der sowjetische Botschafter in Berlin, Adolf Abramowitsch Joffe, wegen revolutionärer Umtriebe aus Deutschland ausgewiesen. Während seiner Berliner Amtstätigkeit hatte er an die 400 sowjetische Agenten nach Deutschland eingeschleust, über deren Verbleib man kaum Kenntnisse hatte. Die Sowjetbotschaft in Berlin war aufs engste mit spartakistischen Organisationen in ganz Deutschland verbunden und sorgte mit ihrem Geld für deren Waffenkäufe. 

Unmittelbar nach der Haftentlassung von Liebknecht ehrte sie ihn mit einem Festessen. Beginnend mit dem 7. November 1918 etablierte sich die Münchener Räterepublik unter Kurt Eisner. Zwar machte Eisner den Eindruck des eher versonnenen Intellektuellen, aber in seinem Nachlaß fand man die Beweise, daß er von Oktober 1918 bis Mitte November nicht weniger als 165 Millionen Mark meist ausländischer Gelder für revolutionäre Aktionen ausgegeben hatte. War das Ziel der Mehrheitssozialisten letztlich eine Form von parlamentarischer Demokratie, so rüsteten sich die Spartakisten offen zum Entscheidungskampf gegen ihre Gegner für eine Diktatur des Proletariats. Diese Diktatur hatte einen Zentralrat an ihrer Spitze, der Gesetzgeber, Regierung und oberstes Gericht zugleich sein sollte.

Das Gespann Luxemburg-Liebknecht setzt in seinem Manifest in der Roten Fahne unter der Überschrift „Was will der Spartakusbund?“ mit einer rhetorisch eindrucksvollen Zustandsschilderung an: „Auf den Schlachtfeldern Frankreichs war der blutige Wahn von der Weltherrschaft des preußischen Säbels zerronnen. Die Verbrecherbande, die den Weltbrand entzündet und Deutschland in das Blutmeer hineingetrieben hat, war am Ende ihres Lateins angelangt. Das vier Jahre lang betrogene Volk, das im Dienste des Molochs Kulturpflicht, Ehrgefühl und Menschlichkeit vergessen hatte, das sich zu jeder Schandtat mißbrauchen ließ, erwachte aus der vierjährigen Erstarrung – vor dem Abgrund.“ Die hier in der einseitigen Schuldzuweisung und in der unhistorischen Sichtweise hervortretende Verengung der Perspektive erfährt auf der anderen Seite eine globale Erweiterung. 

Die Hohenzollern waren nichts anderes „als Geschäftsträger der imperialistischen Bourgeoisie und des Junkertums“ und der eigentliche Urgrund des Bösen ist das System des Kapitalismus: „Das internationale Kapital – das ist der unersättliche Baal, dem Millionen auf Millionen dampfender Menschenopfer in den blutigen Rachen geworfen werden.“ Die Lösung heißt daher: „Die Arbeitsmittel müssen aufhören, das Monopol einer Klasse zu sein, sie müssen Gemeingut Aller werden.“ Über allem steht daher die Losung: „Ueber den zusammensinkenden Mauern der kapitalistischen Gesellschaft lodern wie ein feuriges Menetekel die Worte des ‘Kommunistischen Manifests’: Sozialismus oder Untergang in die Barbarei.“ Letzteres abgesetzt und gesperrt.

An diesem Punkt gerät die Argumentation in das Dilemma fast aller revolutionären Bewegungen: Wie rechtfertigt man die eigene Gewalt, wenn man die Gewalt abschaffen will? Das Problem wird mit verbalen Tricks gelöst. Zunächst wird der Revolution ein menschenfreundliches Gesicht verliehen: „Die proletarische Revolution bedarf für ihre Ziele keines Terrors, sie haßt und verabscheut den Menschenmord.“ Sie hat diese Mittel nicht nötig, „weil sie nicht Individuen, sondern Institutionen bekämpft“. Hier klingt bereits die von der Studentenrevolte von 1968 her bekannte Parole von der „Gewalt gegen Sachen“ an. 

Faktischer Aufruf für den linken Spartakusaufstand

Doch der Sozialismus fällt dem Arbeiter nicht in den Schoß. Er kommt nicht umhin, in ständigem Kampf „das Wort durch eigene Tat zum Fleische zu machen“, insbesondere wenn er „in das Weiße des Auges“ seines Gegners blickt. Selbst wenn das Parlament und die Nationalversammlung sozialistisch wären, würden sich die Kapitalisten nicht deren Entscheidungen fügen: „Es ist ein toller Wahn zu glauben, die Kapitalisten würden sich gutwillig dem sozialistischen Verdikt eines Parlaments, einer Nationalversammlung fügen.“ Der mit aller Macht zu führende Kampf bezieht daher seine Legitimation aus der Brutalität der Ausbeuterklasse: „Die imperialistische Ausbeuterklasse überbietet als letzter Sproß der Ausbeuterkaste die Brutalität, den unverhüllten Zynismus, die Niedertracht aller ihrer Vorgänger.“ 

Und so mündet die beanspruchte Gewaltlosigkeit der Revolution in einen Aufruf zur undifferenzierten Gewalt: „Der Kampf um den Sozialismus ist der gewaltigste Bürgerkrieg, den die Weltgeschichte gesehen, und die proletarische Revolution muß sich für diesen Bürgerkrieg das nötige Rüstzeug bereiten, sie muß lernen es zu gebrauchen – zu Kämpfen und Siegen.“ Dem entspricht die Schlußformel des Manifests mit geradezu beängstigender Bildlichkeit: „In diesem letzten Klassenkampf der Weltgeschichte um die höchsten Ziele der Menschheit gilt dem Feinde das Wort: Daumen aufs Auge und Knie auf die Brust!“

Der regierende, jedoch auf sehr wackligen Beinen stehende „Rat der Volksbeauftragten“, in dem die Mehrheitssozialisten am stärksten vertreten waren, fand sich in einer Zwickmühle. Einerseits benötigte man die Unabhängigen Sozialisten und den Spartakusbund, um den revolutionären Bestrebungen gegen die Monarchie Schwung zu verleihen. Andererseits mußte man sich von den Linksradikalen trennen, um die Nationalversammlung einzuberufen. Nach vorausgegangenen Schießereien setzte um Weihnachten 1918 der Spartakusaufstand ein. Das Manifest trug seine Früchte. 

In dieser Situation wählten die Mehrheitssozialisten mit Gustav Nos-ke bewußt einen Mann aus ihren Reihen, der sich ironischerweise mit den Freikorps weitgehend auf die alten monarchistischen Kräfte stützte. Am 13. Januar 1919 hatte man den Spartakusaufstand niedergeschlagen, ein Kampf, der mit großer Erbitterung und auch schweren Waffen geführt wurde. Zwei Tage später wurden Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht von der Wilmersdorfer Bürgerwehr festgenommen und unter Verletzung aller Rechtsgrundsätze auf Anordnung des Hauptmanns Waldemar Pabst von Angehörigen der Garde-Schützen-Kavallerie-Division erschossen. Das Manifest in der Roten Fahne ist ihr Vermächtnis.