© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/18 / 09. November 2018

„Vom Antisemitismus nicht wirklich erfaßt“
9. November 1938: Oft wird Goebbels Mythos nachgebetet, der Pogrom gegen die Juden sei eine Aktion „der Deutschen“ gewesen
Konrad Löw

Am 9. November 1938 erlag Ernst vom Rath den Verletzungen, die ihm zwei Tage vorher Herschel Grynszpan zugefügt hatte. Vom Rath war Sekretär an der Deutschen Botschaft in Paris, für Grynszpan ein Repräsentant des Deutschen Reiches, das vor wenigen Wochen die im Reichsgebiet lebenden polnischen Juden des Landes verwiesen und über die Grenze getrieben hatte, wo sie im Niemandsland zwischen Polen und dem Deutschen Reich erbärmlich vegetieren mußten. Die Eltern des Attentäters gehörten zu diesen Opfern. Herschel wollte das ihnen zugefügte Leid rächen.

Die Antwort der Hitler-Diktatur ließ nicht lange auf sich warten. Der Mord wurde dem „Weltjudentum“ angelastet.  Noch in der Nacht vom 9. auf den 10. November wurde ein Pogrom ausgelöst, wie ihn Deutschland lange nicht erlebt hatte. Hunderte fanden den Tod, als Mordopfer, durch Selbstmord oder infolge der Leiden, die den Verhafteten in den Lagern Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen zugefügt worden waren, in die die Machthaber etwa 30.000 meist wohlhabende Juden eingeliefert hatten. Synagogen und Kaufhäuser wurden zerstört, Wohnungen geplündert und demoliert. Dieses Verbrechen bleibt ein wesentlicher Bestandteil der deutschen Geschichte, und zwar auf Dauer.

Doch wie oft soll in der Presse daran erinnert werden? Darüber gehen die Meinungen sicher auseinander, und dies wird sich um den Jahrestag 2018 herum zeigen. Dieser Anlaß zur Rückbesinnung sollte zumindest so lange wahrgenommen werden, wie einflußreiche Stimmen die Ereignisse von damals entstellen und einer falschen Beurteilung Vorschub leisten, zumal wenn es die Sicht der Verbrecher von damals ist.

Den unbestreitbaren Tatsachen zuwider hat Reichspropagandaminister Joseph Goebbels behauptet, die Volksgemeinschaft habe den Pogrom inszeniert und mitgetragen. Dabei war er es, der die Fäden zog – im Einvernehmen mit seinem Führer. Schon damals haben es die Spatzen von den Dächern gezwitschert. Und heute vertritt niemand das Gegenteil. Diese Lektion muß also jetzt nicht mehr gelehrt werden! Wirklich?

Jahrzehnte ist es her, da wurden die Deutschen pauschal als „Hitlers willige Vollstrecker“ (Daniel Goldhagen) diskriminiert, ohne die reichlich vorhandenen Quellen der Erkenntnis auszuschöpfen. An dieser Praxis, den Stab pauschal über die Deutschen zu brechen, ohne die Fakten sprechen zu lassen, hat sich bis heute nichts geändert. Erst unlängst sah die JUNGE FREIHEIT (JF 33/17) Veranlassung, darauf hinzuweisen, wie wieder die Deutschen zu einer „Exekutionsgemeinschaft“ gemacht werden – ohne gründliche Berücksichtigung der Fakten. 

Judenverfolgung wurde vom Volk als Sünde empfunden

Die Hauptverantwortlichen des NS-Dokumentationszentrums München deklarieren offen die Absicht, „München als Täterstadt“ zu präsentieren. Auf dem Weg zu diesem Ziel werden die wichtigsten Dokumente ausgeblendet, Texte wie die Erfahrungen der Münchnerin Esther Cohn: „Inzwischen sind wir nun besternt (19.9.) worden und es ist gar nicht schlimm, im Gegenteil, die Leute sind sehr, sehr nett zu uns.“ Wenige Wochen später wurde sie deportiert und schließlich ermordet.

Dresdens Oberbürgermeister glaubt zu wissen, Dresden sei „keine unschuldigen Stadt“ gewesen. (Gab es, gibt es „unschuldige Städte“?) Der in Dresden lebende Victor Klemperer urteilte 1941 auf Grundlage seiner eigenen täglichen Erfahrungen dementgegen: „Fraglos empfindet das Volk die Judenverfolgung als Sünde.“ Doch derlei bleibt weithin unberücksichtigt.

2009 erschien das Buch „Nie mehr zurück in dieses Land“. Einleitend heißt es: „Es kommt einer Sensation gleich, wenn siebzig Jahre nach den Novemberpogromen 1938 erschütternde Augenzeugenberichte ans Tageslicht gelangen.“ Es sind 21, alle damals verfaßt von Opfern, die aus Deutschland geflohen waren oder die man vertrieben hatte. Die Verbitterung dieser Menschen spricht aus dem Buchtitel. Und trotzdem bekunden sie ihre Bereitschaft, zwischen der politischen  Führung und dem Volk einen scharfen Trennungsstrich zu ziehen. 

Konrad Heiden, der erste Biograph Hitlers, in den dreißiger Jahren nach Paris geflohen, hat damals ebenfalls Zeugenberichte gesammelt und ausgewertet. Titel: „Eine Nacht im November 1938“. Die Zusammenfassung lautet: „Die Massen sollten in den Taumel des antisemitischen Handelns hineingerissen werden, damit sie auf diese Weise antisemitisch fühlen lernten. Und das ist nicht gelungen. Eine Fülle von Zeugnissen spricht es aus. Die breiten Massen des deutschen Volkes haben sich an den Verbrechen des 9. und 10. November – von örtlichen Ausnahmen abgesehen – nicht beteiligt: sie haben wenigstens teilweise sie mißbilligt.“ Und dann zitiert er den Berliner Korrespondenten der Times, der ihm voll beipflichtet. Er hätte auch Goebbels zitieren können, der nach Tagen der Enttäuschung zu der intimen Einsicht gelangte: „Allgemein muß man nach wie vor feststellen, daß das deutsche Volk vom Antisemitismus nicht wirklich erfaßt ist.“ Diese Einsicht gilt es festzuhalten. Die ganze Wahrheit ist zumutbar. 






Prof. Dr. Konrad Löw lehrte Politikwissenschaft an der Universität Bayreuth. Er ist Autor des Werkes „München war anders! Das NS-Dokumentationszentrum und die dort ausgestellten Dokumente.“ (Reinbek 2016).