© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/18 / 09. November 2018

Steigen die Zinsen, explodieren die Schulden
Thomas Kirchner

Laut Maastricht-Vertrag sollen die Staatsschulden die Marke von 60 Prozent der Wirtschaftsleistung nicht überschreiten. Das war 1992 der Durchschnitt der Kandidaten für die Währungsunion. 2017 betrug diese bei den 19 Euroländern 86 Prozent, selbst Deutschland liegt mit 64 Prozent darüber, von Frankreich (97 Prozent), Portugal (125 Prozent) oder Italien (132 Prozent) ganz zu schweigen. Von den alten Euroländern sind nur die Niederlande (57 Prozent) und Luxemburg (23 Prozent) vertragstreu. Und nur die Neuzugänge Slowakei (51 Prozent), Lettland (40 Prozent), Litauen (40 Prozent), und Estland (neun Prozent) sowie Malta (50 Prozent) halten sich ebenfalls an das Stabilitätskriterium.

Die USA reißen die 100-Prozent-Marke um fünf Prozent, und Japan dürfte sich mit 236 Prozent bei schrumpfender Bevölkerung langfristig in einer Schuldenspirale verfangen. Aber die japanische Auslandsverschuldung ist dennoch viel geringer als die der USA. Immerhin wächst die US-Wirtschaft nach Donald Trumps Steuerreform und Deregulierung im Rekordtempo – nur – die Schulden wachsen noch schneller. Für eine Begrenzung der Staatsausgaben gibt es kaum Spielraum: Der Großteil der Ausgaben geht in den Industriestaaten inzwischen den Bereich Soziales, so über 60 Prozent in den USA und in Deutschland mit 52 Prozent nur knapp weniger.

Die hohen Schulden sind eine schwere Hypothek für die Zukunft. Und wie wird es dann erst aussehen, wenn Zinsen und Arbeitsloszahlen samt den Sozialausgaben steigen, die Wirtschaft schwächelt, und weniger Steuern fließen? 2017 gaben Deutschland und die USA je sechs Prozent ihres Haushalts für Zinsen aus, eine ähnliche Größenordnung wie die meisten Industrienationen. Bis in die 1990er Jahre, als Zinsen noch bei sechs Prozent und höher lagen, gaben Staaten etwa ein Zehntel ihres Budgets dafür aus, allerdings bei einem damals wesentlich niedrigeren Schuldenstand. Steigen die Zinsen heute nur geringfügig, geraten die Etats aus den Fugen. In Deutschland würden Zinserhöhungen schnell  durchschlagen, denn die meisten Schuldpapiere werden innerhalb von drei Jahren fällig. Und selbst wenn die Zinsen niedrig bleiben, werden angesichts steigender Schulden die Zinsaufwendungen wachsen.

Was haben Regierungen für die hohen Verpflichtungen vorzuweisen? Japan hat nach fast zwei Jahrzehnten der Konjunkturprogramme eine hervorragende, moderne Infrastruktur. Bildung, Wissenschaft und Forschung sind herausragend, die Sicherheit vorbildlich. Doch trotz beneidenswerter Investitionen kommt die Wirtschaft nicht in Schwung. Die Exporte boomen (2017: 698,4 Milliarden Dollar), die Binnennachfrage ist aber schwach. Das Bruttosozialprodukt ist ungefähr auf dem gleichen Stand wie 2000, aber die Schulden sind um zwei Drittel höher. Kurz: Die durch Schulden finanzierten Mittel sind verpufft.

In den USA stiegen die Staatskredite in zwei Dekaden weit stärker, als die Wirtschaft wuchs – insbesondere unter Präsident Barack Obama. Auch hier haben die zusätzlichen Staatsausgaben nicht die erwünschte Wirkung gezeigt. Und die USA können die Bankenrettungen nicht als Ausrede bemühen. Bei denen hat der amerikanische Staat sogar einen Gewinn erzielt. Der amtierende US-Präsident Donald Trump versprach, sich um die Verschuldung zu kümmern. Seine Steuerreform kurbelt zwar die Wirtschaft an, an den Ausgaben rüttelt der Präsident noch nicht. Das verschärft die Lage: Derzeit lasten auf dem US-Bund Verpflichtungen in Höhe von 21,6 Billionen Dollar – das sind 66.000 Dollar pro Kopf. In Deutschland liegt die Bundesschuld „nur“ bei 1,24 Billionen Euro – etwa 15.000 Euro pro Kopf. Zudem wuchsen Schulden und Wirtschaftslei­stung über 20 Jahre etwa gleichmäßig, was als Erfolg gelten darf. Aber: Hinzu kommen pro Einwohner noch durchschnittlich 11.000 Euro Schulden der Länder und Kommunen. Mit extremen Unterschieden: Ein Bremer trägt 30.828 Euro auf seinen Schultern, ein Bayer dagegen nur 2.359 Euro, ein Sachse mit 1.144 Euro sogar nur halb soviel.

Die keynesianische Vorstellung, Staatsausgaben besäßen einen Multiplikatoreffekt, durch den die Wirtschaft schneller wachse als die Ausgaben, entpuppt sich in der Realität hochentwickelter Industrienationen als Milchmädchenrechnung. Dazu kommt, daß der liberale John Maynard Keynes selbst die Rolle des Staates nicht als Dauerschuldner sah, sondern forderte, in guten Zeiten Rücklagen zu bilden, um so als Stabilisator zu fungieren. Davon wollen Neokeynesianer nichts wissen, sie preisen immer höhere Staatsausgaben als Investition in die Zukunft an.

Die Harvard-Professoren Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff warnen in ihrem Mammutwerk „Dieses Mal ist alles anders: Acht Jahrhunderte Finanzkrisen“ (FinanzBuch Verlag 2010) vor den Folgen exzessiver Staatsverschuldung: Ab 90 Prozent Schuldenquote sinke das Wachstum, und die Gefahr einer Staatspleite steige. Manche hofften, die Regierungen könnten durch Niedrigzinsen ihre Finanzen in Ordnung bringen. Statt dessen expandierte die Schuldenlast weltweit – höhere Schulden wurden so finanzierbar, zumindest vorläufig. Griechenlands Schuldenstand ist wieder auf dem Niveau von 2011 – vor der Umschuldung (172 Prozent). Griechenland ist ein Paradebeispiel: Bankenkrise, Währungskrise – und beinahe ein Euro-Austritt wegen Überschuldung. Italien ist der nächste Pleite-Kandidat.

Die USA hingegen haben eine effizientere Form der Umschuldung öffentlicher Pleitiers geschaffen. Dort kennt man keine Haftung der Zentralregierung für die Schulden der Bundesstaaten, Städte oder Gemeinden. Insolvenzverfahren von Gemeinden kommen dementsprechend öfter vor. Derzeit restrukturiert das US-Territorium Puerto Rico seine 73 Milliarden Dollar Schulden – soviel wie Hessen und Bremen zusammen. Doch es gibt keine Bankenkrise, auch ein Austritt aus dem US-Dollar steht nicht zur Debatte. Der Grund liegt im Steuersystem: Die Anleihen werden von Privatanlegern gehalten, nicht von Banken. Betroffen sind also viele Sparer, insbesondere Rentner, die von Zinseinkünften leben müssen. Die nächsten Pleitekandidaten sind der fünftgrößte US-Bundesstaat Illinois und der „Gartenstaat“ New Jersey. Auch dort wird dann die Umschuldung glatt vonstatten gehen.

Nur eine Flugstunde südlich von Puerto Rico entfernt, durchlebt das erdölreiche und tropensozialistische Venezuela ebenfalls eine Staatspleite, die der traditionellen Blaupause von Währungsabwertung, Inflation und Bankenkrise folgt. Wobei die Abwertung des Bolívars die Schuldenkrise nur verschärft, denn ein erheblicher Teil der Schulden Venezuelas notiert in US-Dollar.

Auf der anderen Seite der Bilanz von Staatsschulden stehen immer Anleger, die ihre Ersparnisse einem Staat anvertrauen, aber nicht immer ganz freiwillig. In Europa wird die Staatsfinanzierung durch eine komplizierte Finanzarchitektur verschleiert. Staatsanleihen werden meist von Banken und Lebensversicherungen gehalten. Nicht, weil sie von der Qualität der Papiere überzeugt sind, sondern weil Regierungen durch Kapitalanforderungen den Instituten keine andere Wahl lassen, als die Kundeneinlagen in Staatsanleihen zu investieren. Das Ergebnis ist dann zwangsweise eine Bankenkrise, sobald eine Regierung in Zahlungsschwierigkeiten kommt. Dann haften ahnungslose Bankkunden und Versicherte plötzlich für den Staat.

Mit dem Anstieg der Staatsschulden der westlichen Industrienationen haben weitere Kreditgeber die Bühne betreten, die zur Eskalation zukünftiger Schuldenkrisen beitragen könnten: Staaten mit Währungsreserven oder Staatsfonds. Früher waren Entwicklungsländer Kreditnehmer und Industrienationen Kreditgeber. Der Finanzbedarf der westlichen Wohlfahrtsstaaten hat dieses Verhältnis auf den Kopf gestellt. Die Weltbank schätzt, daß Staatsfonds zehn bis 20 Prozent der Staatsschulden der Industrienationen finanzieren, was 600 Milliarden bis 1,2 Billionen Dollar entspräche. Dazu kommen die Investitionen von Zentralbanken. Chinas Währungshüter und Japans Zentralbank kontrollieren jeweils US-Staatsanleihen über einen Wert von einer Billlion Dollar und einen geringeren, aber trotzdem immensen Betrag an Anleihen der EU-Staaten. Sollten die USA oder größere EU-Länder eines Tages ihre Schulden restrukturieren müssen, werden sich Staatsfonds und Zentralbanken weigern, einen Beitrag zu leisten. Denn es ist Usus, staatliche Kreditgeber gegenüber privaten zu bevorzugen. Der IWF etwa hat so gut wie nie bei einer Restrukturierung Schulden abgeschrieben, selbst in Griechenland waren es bisher nur private Kreditgeber, die einen Schuldenschnitt hinnehmen mußten.

Die Zeitbombe tickt, auch wenn es auf absehbare Zeit zu keiner größeren Schuldenkrise in den Industrienationen kommen dürfte. Italien könnte eine Ausnahme sein, denn die Kombination aus hohem Schuldenstand und hohem Haushaltsdefizit, bei dem kein Ende abzusehen ist, stellt das Land ernsthaft vor die Gefahr, seine Anleihen nicht mehr bei Anlegern plazieren zu können. So begann übrigens die Griechenlandkrise.

Akute Gefahr von Schuldenkrisen besteht weiterhin in Entwicklungsländern. Niedrigzinsen haben auch dort höhere Schulden ermöglicht, eine Verdopplung seit 2008 auf acht Milliarden Dollar. Mit dem Ende der quantitativen Lockerung durch die US-Zentralbank Fed erleben diese Länder jetzt eine Dollarknappheit, die Finanzierung fälliger Anleihen wird schwierig. Neben der Türkei – ein Sonderfall aufgrund der politischen Lage–, sind Argentinien, Brasilien, Südafrika, Kolumbien, Rußland und Indonesien Pleitekandidaten, aber auch Ungarn oder Polen haben hohe Schuldenstände. Anleger sollten sich von Anleihen jeder Art fernhalten, auch von verdeckter Staatsfinanzierung durch Sparkonten oder Lebensversicherungen. Aktien und ausgewählte Immobilien bleiben weiterhin als produktive Anlagen auch die sichersten.

Wie eine Wirtschaft mit wenig Staatsschulden prosperieren kann, zeigen die mit Neuseeland assoziierten Cookinseln im Pazifik. Dort entschied man, die Staatsverschuldung auf 35 Prozent zu beschränken. Trotz Bevölkerungsschwundes von zwölf Prozent im vergangenen Jahrzehnt ist die Wirtschaft so stark gewachsen, daß die OECD die Inselrepublik von der Kategorie „mittleres“ auf „hohes“ Einkommen heraufstufen will. Ironie der Geschichte: Der Erfolg ärgert die Regierung des Archipels, denn durch die Heraufstufung wird die Entwicklungshilfe niedriger ausfallen.






Thomas Kirchner ist Fondsmanager des Quaker Event Arbitrage Funds, den er 2003 als Pennsylvania Avenue Funds gründete. Es war der erste amerikanische Publikumsfonds, der ereignisgetriebene Strategien implementierte.