© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/18 / 16. November 2018

Die Wunden heilen
Architektur: In Hamburg wird über die historische Rekonstruktion von Stadtvierteln diskutiert
Werner Becker

Die neue Frankfurter Altstadt macht Schule. Nun hat die deutschlandweite Diskussion über den Wiederaufbau zerstörter Gebäude und Stadtquartiere sogar Hamburg erfaßt. Ausgerechnet Hamburg. Denn die Elbmetropole hat den zweifelhaften Ruf einer äußerst abrißfreudigen Stadt, in der der Denkmalschutz nichts zählt, wenn er die Geschäfte stört. Anfang des neunzehnten Jahrhunderts schreckten die Stadtoberen nicht einmal davor zurück, den mittelalterlichen Dom abzureißen.

Auch in der Folge fackelten sie nicht lange. Jüngstes Beispiel: Das Ende der zwanziger Jahre errichtete, nach dem Krieg zum Teil wieder aufgebaute  Deutschlandhaus am Gänsemarkt, ein Stahlskelettbau mit Backsteinfassade, soll abgerissen werden, da es nicht mehr den modernen Anforderungen an ein Bürohaus entspricht. Trotz Protesten von Denkmalschützern sollen bereits im kommenden Jahr die Bagger anrücken.

Dabei scheint auch in der Hansestadt die Sehnsucht zu wachsen, die Wunden, die der Krieg und vor allem der rücksichtslose Abriß und Wiederaufbau der Nachkriegszeit unübersehbar in das historische Stadtbild geschlagen hat, endlich zu heilen. Vorreiter ist dabei ausgerechnet die linke Hamburger Morgenpost. Mit einem leidenschaftlichen Artikel warb sie kürzlich dafür, dem zwischen Rathausmarkt und Hafen gelegenen Hopfenmarkt seine historische Gestalt wiederzugeben. Um dem architektonisch arg gebeutelten und heute als Parkplatz genutzten Areal neues Leben einzuhauchen, schlug das Blatt unter anderem einen „Riegel mit Retrobauten“ nach Frankfurter Vorbild vor.

Das alte Hamburg ist bis heute in zwei Hälften geteilt

Bis zum Zweiten Weltkrieg wurde der Hopfenmarkt von der nach dem Großen Hamburger Brand von 1842 im neugotischen Stil wiederaufgebauten Nikolaikirche dominiert. Nach ihrer Zerstörung im alliierten Bombenkrieg wurde das durchaus wiederaufbaufähige Kirchenschiff bis auf die Grundmauern abgeräumt und der Schutt in die Elbe gekippt, der 147 Meter hohe Kirchturm zum Mahnmal umgewidmet. Die südliche Seite des Platzes fiel der Schneise der Ost-West-Straße zum Opfer, die von den Stadtplanern ohne Rücksicht auf den historischen Straßenverlauf im Sinne der autogerechten Stadt geschlagen wurde und das alte Hamburg bis heute in zwei Hälften teilt.

Anlaß für die aktuelle Diskussion über den Hopfenmarkt ist der Abbruch eines Gebäudes eines Versicherungskonzernes aus den siebziger Jahren auf der Nordseite, der Platz für neues – oder altes schafft. Durch den Abbruch wird auch die überbaute Bohnenstraße wieder freigelegt, wodurch die Möglichkeit entsteht, hier historische Häuserfronten zu rekonstruieren. Doch bislang sehen die Pläne der Stadtplaner lediglich den Bau eines architektonisch beliebigen Wohn- und Bürokomplexes mit austauschbaren Fassaden in der derzeit beliebten „Schießschartenoptik“ vor. Einer umfassenden Wiederherstellung des Hopfenmarktes steht zudem die seit Jahrzehnten diskutierte, aber bislang nicht ernsthaft geplante Untertunnelung der Ost-West-Schneise im Wege.

Gleichzeitig ist Hamburg an ganz anderer prominenter Stelle dabei, eine einmalige Chance zu einer großflächigen Stadtreparatur zu vergeben. Das Hamburger Verlagshaus Gruner + Jahr gibt seinen riesigen Verlagssitz am Hafenrand unweit der Überseebrücke auf und zieht, wie zuvor schon der Spiegel, in die neue Hafencity. Dadurch ergeben sich ungeahnte städtebauliche Möglichkeiten: Denn das Mitte der achtziger Jahre aus viel Stahl und Zinkblech errichtete Gebäude, das mit großen Bullaugen und an Rehlings erinnernden Geländern architektonisch den Bogen zum benachbarten Hafen schlagen sollte, nimmt den Platz gleich mehrerer historischer Häuserblocks ein und überlagert den alten Straßenverlauf.

Auch wenn es das Pressehaus nicht ganz mit der brutalen Beton-Optik des ehemaligen technischen Rathauses in Frankfurt am Main aufnehmen kann, ist die städtebauliche Problemlage ähnlich. So wie das technische Rathaus bis zum Abriß auf der Fläche der zerstörten Frankfurter Altstadt den Raum zwischen Römer und Kaiserdom dominierte, verbaut das Gebäude von Gruner + Jahr den architektonischen Bezug zwischen dem Hamburger Hafen und dem Wahrzeichen der Stadt, der St. Michaelis-Kirche.

Wer einst vom Hafen kommend zum leicht erhöht auf dem Geestrücken stehenden „Michel“ hinaufstieg, mußte hierzu unter anderem den Schaarmarkt überqueren, dessen Häuser das Kirchenschiff teilweise verdeckten, und dann den schmalen und für Hamburger Verhältnisse steilen gassenartigen Hohlen Weg erklimmen, um endlich vor dem Hauptportal der Kirche zu stehen. Doch von dieser reizvollen städtebaulichen Situation ist dank Bombenkrieg und Wiederaufbau kaum etwas geblieben.

Wer sich heute von der Überseebrücke auf den Weg zum Michel macht, steht, nachdem er die monotone Fassade des Gruner + Jahr-Gebäudes hinter sich gelassen hat, unvermittelt auf einer Grünfläche – der „Michelwiese“, bei der es sich eigentlich um den historischen Schaarmarkt handelt. Doch städtisches Flair kommt auf dieser sogar mit einem öffentlichen Grillplatz versehenen Rasenfläche nicht auf.

Entscheidend ist jedoch, daß die Städteplaner nach Norden hin den Blick auf den Michel weitgehend freigeschlagen haben. Der einst schmale Hohle Weg, der nur zögerlich den Blick auf die Kirche freigab, ist zu einer breiten Schneise erweitert worden – die Steigung muß nun zu allem Überfluß per Treppen bewältigt werden.

Stadtplaner wollen einen modernen Bürokomplex  

Schon die Stadterneuerung an der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert hatte den Reiz des mächtigen, aus einem Meer von relativ kleinen und schmalen Fachwerkhäusern auftauchenden Kirchenbaus empfindlich gestört. Damals waren zahlreiche alte Häuser durch gründerzeitliche Mietskasernen ersetzt worden. Heute vermitteln nur noch das Kleine Fachwerkensemble der Krameramtsstuben, bestehend aus zwei im 17. Jahrhundert errichteten Häuser mit der einst typischen schlauchartigen Hofbebauung, in unmittelbarer Nähe des Michels einen Eindruck von diesem verlorengegangenen architektonischen Spannungsverhältnis.

Die Aufgabe des riesigen Verlagskomplexes durch Gruner + Jahr an der Südseite des einstigen Schaarmarktes bietet nun die einmalige Gelegenheit, dem zur Wiese aufgelösten Platz seinen städtischen Charakter zurückzugeben und dadurch die gesamte Gegend aufzuwerten. Eine architektonische Verdichtung des Gebietes zwischen Michel und Hafen, das sich an der Bebauung der Vorkriegszeit orientiert, würde zudem das Umfeld der Kirche mit dem bei Touristen äußerst beliebten „Portugiesen-Viertel“ verbinden. Hier hat sich westlich des Schaarmarktes ein weitgehend gründerzeitlich bebautes Viertel erhalten, das unvermittelt auf der Michelwiese endet und seinen städtebaulichen Zusammenhang zu den ebenfalls noch weitgehend historisch bebauten Straßenzügen südöstlich des Michels verloren hat.

Doch die Stadt, die den Verlagsbau für rund 80 Millionen Euro erworben hat, will den Koloß modernisieren und als Behördenzentrum nutzen. Damit verspielt der Senat die einmalige Chance, direkt am Hafen ein neues Wohnquartier mit historischem Antlitz zu entwickeln und gleichzeitig den südlichen Teil der historischen Hamburger Neustadt wieder zu einer städtebaulichen Einheit zusammenzufügen. Es scheint, als verstünde sich die Hansestadt immer noch besser darauf, historische Bausubstanz abzureißen, als zu rekonstruieren.