© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/18 / 16. November 2018

Der erste politische Prediger Deutschlands
Eine Erinnerung zum 250. Geburtstag des Theologen Friedrich Schleiermacher
Wolfgang Müller

Gottlieb Schleiermacher, während des Siebenjährigen Krieges Feldprediger in der Armee des großen Königs, fiel die Namenswahl für seinen ältesten, am 21. November 1768 in Breslau geborenen Sohn nicht schwer: Friedrich möge er heißen.

Diese über dem Taufbecken verabfolgte preußische Prägung zog der Biographie des neuen Erdenbürgers fortan enge geographische Grenzen. Denn über Preußen ist, abgesehen von Schulbesuch und Studium bei den Herrnhutern in der Oberlausitz, der so gefeierte wie mitunter geschmähte „Kirchenvater des 19. Jahrhunderts“ nie hinausgekommen. Es reichte nicht einmal, um Ostelbien zu verlassen. In Schlesien wuchs Friedrich Schleiermacher auf, in Ostpreußen, bei den Dohnas auf Schloß Schlobitten, einem der vornehmsten Häuser des Königreichs, bekam er 1790 seine erste Anstellung als Hauslehrer, und – befeuert durch die Schwärmerei für die 16jährige Gräfin Friederike Dohna – kultivierte er den überaus sympathischen Gedanken, daß die „Natur der Frauen“ edler sei und daß ihr Leben glücklicher verlaufe als das der Männer. Warum er dann konsequent mit dem – in der heutigen Zeit des Gender-Wahns gar nicht mehr so – „unmöglichen Wunsche“ spielte, „eine Frau zu sein“.  

Von Schlobitten führte der Weg über Landsberg an der Warthe nach Berlin, auf eine fatal mit Siechtum und Tod  verkettete Stelle als Charons Nachen steuernder Seelsorger an der Charité. Gleichwohl waren es für ihn heitere und produktive Jahre, verbracht im Kreis der von den Schlegel-Brüdern verkörperten „Berliner Romantik“, deren intellektuelles Profil sein aus dem Kanon der Pflichtlektüren nie zu verdrängender Essay „Über die Religion – Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern“ (1799) viel verdankt. Ein Umfeld, aus dem ihn aber eine hoffnungslose Liebe zu einer Pfarrfrau hinauskatapultierte. Versetzt ins tiefste Hinterpommern, nach Stolp, betreute er dort von 1802 bis 1804 eine kleine reformierte Gemeinde. Eine Sinekure, die ihm viel Zeit ließ, um mit Übersetzungen von Platons Dialogen zu beginnen, die er 1828 über die Ziellinie brachte und die neben dem Shakespeare von „Schlegel/Tieck“ und Johann Heinrich Voss’ Homer zu den epochalen literarischen Leistungen der „Achsenzeit“ (Karl Jaspers) um 1800 zählt.

Preußens Niederlage als „Chance“ begriffen

In Halle gab er anschließend ein Gastspiel auf einem Lehrstuhl in der Theologischen Fakultät, das im Herbst 1806 brutal endete, als nach Preußens Zusammenbruch bei Jena-Auerstedt Napoleons Besatzungsoffiziere die Universität auflösten. Schleiermacher, der noch bis zum Frühjahr 1807 unter den Augen der Okkupanten in Halle predigte, bevor er versuchte, sich in Berlin an der im Zweiten Weltkrieg durch anglo-amerikanischen Bombenterror pulverisierten Dreifaltigkeitskirche zu etablieren, wollte Preußens „Unglück“ durchaus als Chance begreifen: „Gott ist es, der neue Strenge und Ernst in unsere öffentlichen Angelegenheiten bringt.“ Man werde also jetzt besser sehen, „daß Gott noch liebt das Volk der Deutschen“. Napoleon sei mithin Gottes Zuchtrute, die in den unterdrückten, ausgesaugten Preußen und Deutschen „das Gute“ wecke, so daß sie sich beweisen könnten als das Volk, das die Freiheit des Geistes und die Rechte des Gewissens verteidige. 

Mit dieser Überzeugung begann Schleiermachers kometengleiche Bahn als philosophisch tiefgründigster Kanzelredner Preußens und als „der erste politische Prediger Deutschlands“. Die verwegene, Dürers „Ritter, Tod und Teufel“ vitalisierende, zum geflügelten Wort gewordene Wendung seines Schwagers Ernst Moritz Arndt wie seines Konfirmanden Otto von Bismarck, wonach wir Deutschen Gott fürchten, aber sonst nichts auf der Welt, sie stammt von ihm und ist das Leitmotiv seines dreißigjährigen vaterländischen Engagements gewesen. Welches Ansehen er sich dabei erwarb, spiegelt eine Notiz Leopold von Rankes wider, der den Trauerzug des am 12. Februar 1834 – dem Todestag Kants übrigens – von einer Lungenentzündung dahingerafften Kollegen auf 20.000 bis 30.000 Menschen taxierte.

Die politischen Potentiale von Schleiermachers Theologie sind über hundert Jahre lang verschüttet worden durch das Für und Wider der Erörterungen zum Wesen der Religion, das der Gottesgelehrte als „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“ definierte. Schon Hegel, ein anderer Berliner Kollege, antwortete darauf mit Hohn: Demnach sei der Hund der beste Christ, denn dieser unterwürfige Freund des Menschen trage das Gefühl seiner Abhängigkeit am stärksten in sich.

Hinter solchen bereits in den 1790ern anhebenden, mit Verdächtigungen wie „Pantheist“ nicht knausernden Kontroversen um das Religionsverständnis des Autors kam die Befassung mit einem politischen Denker stets zu kurz, der die Nation, in der sich die gesellige Vermittlung des Endlichen mit dem Unendlichen für ihn vollzieht, zu den „erhabendsten Ordnungen im Hause Gottes“ rechnete und dessen Werk sich als „Befreiungstheologie“ bewährte. Es dauerte daher bis 1908, als der damalige Königsberger Homiletiker Johannes Bauer über „Schleiermacher als patriotischer Prediger“ schrieb. 1923 folgte ihm Günther Holsteins „Staatsphilosophie Schleiermachers“. Danach schlief das Interesse an der Staatstheorie dieses geistigen Führers der preußischen Reformära wieder ein. Erst im Sog des Kulturbruchs von 1968 zeichnete sich ein freilich gegen die von ihm begründete „nationalprotestantische“ Tradition gerichteter Klimawandel in der Rezeption ab.

So widmete sich der Leipziger Kirchenhistoriker Kurt Nowak in seiner wuchtigen Schleiermacher-Biographie (2001) eingehend den politischen Dimensionen von Leben und Werk seines Helden. Matthias Wolfes folgte 2004 mit einer erschöpfenden Untersuchung zu „Friedrich Schleiermachers politischer Wirksamkeit“. Weder die Beteiligung an der auf einen Volksaufstand gerichteten antifranzösischen Konspiration (1808) fehlt, noch der Anteil an der Berliner Universitätsgründung (1809/10), die auch der geistigen Mobilmachung gegen Napoleon dienen sollte, noch die Episode als militanter Publizist des Preußischen Correspondenten (1813), noch die wackere Teilnahme des körperlich Behinderten an Übungen des Berliner Landsturms (1813).  

Zerrbilder der Begriffe Volk und Nation

Bedauerlich an dieser seit 1980 vom editorischen Mammutunternehmen der Gesamtausgabe begleiteten, trotzdem bescheidenen Schleiermacher-Renaissance ist nur die unerträglich zeitgeistkonforme Zurichtung des politischen Theologen. Wolfes, der Schleiermacher sogar als Vordenker der EU lanciert, ist vor allem bemüht nachzuweisen, der Patriot habe nicht den „finsteren Weg des Nationalismus“ beschritten. Tatsächlich hantieren solche Deutungen nur mit zeitgeistig-demagogischen Zerrbildern der Begriffe Volk und Nation. Mit der Absicht, Schleiermacher, diesen kompromißlosen, vor dem Hintergrund gegenwärtiger Globalisierungsdebatten wieder mit Gewinn zu lesenden Gegner des Kosmopolitismus und des hohlen „Weltstaat“-Utopismus, als Kronzeugen bundesdeutscher „Weltoffenheit“ zu vereinnahmen.