© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/18 / 23. November 2018

Das vergessene Unrecht
Nach Kriegsende 1918 setzte auf Weisung aus Paris im Elsaß und in Lothringen die Verfolgung und Vertreibung von 180.000 Deutschen ein
Karlheinz Weißmann

Die Postkarte zeigt auf der Bildseite die Gestalt eines bärtigen Mannes, der sich dem Straßburger Münster in der Ferne zuwendet. Vor ihm liegt der deutsche Grenzpfahl mit dem Adlerwappen am Boden, darüber die Inschrift „1870–1915“, darunter „Le rêve de Déroulède“ – „Der Traum Déroulèdes“. Paul Déroulède war das, was man in Frankreich einen „Revanchisten“ nannte, ein radikaler Nationalist, einer, der Rache wollte, Rache für die französische Kriegsniederlage von 1871. Damit verbunden war nicht nur der Wunsch, eine nationale Demütigung auszutilgen und den deutschen „Erbfeind“ zu besiegen, sondern auch der, ihm die verlorenen Provinzen wieder abzunehmen: Elsaß-Lothringen. 

Déroulède und seine ebenso einflußreiche wie mitgliederstarke „Ligue des Patriotes“ agitierten seit den 1880er Jahren offen für dieses Ziel, während die Mehrzahl der Politiker der Dritten Republik der Parole folgte, die Léon Gambetta ausgegeben hatte: „Immer daran denken, niemals davon reden!“ Aber das änderte nichts daran, daß zur Agenda der französischen Politik über mehr als vier Jahrzehnte das Ziel gehörte, eines Tages zu den Waffen zu greifen und zurückzuholen, was als integraler Bestandteil des Landes und als Vorfeld seiner „natürlichen Grenzen“ galt.

Nur eine Minderheit wollte zu Frankreich

Déroulède starb am 30. Januar 1914. Er erlebte die Erfüllung seines Traums nicht mehr. Aber zu den Zielen Frankreichs gehörte bei Kriegsausbruch im August die Restitution des Elsaß und Lothringens. Für einen Moment schien dieses Ziel überraschend schnell in greifbare Nähe gerückt, als französische Truppen bei Mühlhausen auf das Reichsgebiet vordrangen. Allerdings erwartete die Soldaten eine unangenehme Überraschung. Sie marschierten in die elsässischen Ortschaften und erwarteten, jubelnd als Befreier begrüßt zu werden, von einer Bevölkerung, die so lange unter der notorischen preußischen Tyrannei und deutschen Grausamkeit gelitten hatte. 

Aber davon konnte keine Rede sein. Die Menschen reagierten abwartend oder ablehnend. Vor allem aber sprachen sie kein Französisch. Ein Schock angesichts der Kulturpropaganda, mit der schon jedes französische Schulkind in Berührung kam und derzufolge Elsässer und Lothringer Franzosen wie alle anderen waren. Tatsächlich blieb der Gebrauch der französischen Sprache aber beschränkt auf das westliche Lothringen und die Kreise des gehobenen Bürgertums in den großen Städten. Bei einer Erhebung im Jahr 1913 gaben lediglich sechs Prozent der Elsässer an, daß Französisch ihre Muttersprache sei, 94 Prozent nannten Hochdeutsch oder die elsässische Mundart.

Diese Dreiteilung hatte ihre Ursache in der Zusammensetzung der Bevölkerung, die im Regelfall aus Eingesessenen bestand, hinzu kamen diejenigen, die sich neigungshalber oder aufgrund ihrer Herkunft zu den Frankophilen rechneten, und dann noch die, die aus „Altdeutschland“ zugezogen waren. Eine Ursache dieser Wanderungsbewegung bildeten Versetzungen von Beamten oder Offizieren, eine weitere der bemerkenswerte ökonomische Aufschwung, der Unternehmer wie Angestellte und Arbeiter anzog. Der wachsende Wohlstand hatte auch zur Folge, daß die Einwohnerschaft mit dem, was die französische Seite „Besetzung“ nannte, recht zufrieden war. 

Zwar hatte Elsaß-Lothringen einen Sonderstatus als „Reichsland“, aber 1911 wurde ein Autonomiestatut erlassen. Der Spielraum für kulturelle Selbstbestimmung war schon vorher groß gewesen. Die Behörden konnten selbst ausgesprochen kritische Stimmen dulden, und die Zahl derjenigen, die eine Rückkehr zu Frankreich wünschten, war klein. Bei der Reichstagswahl von 1912 erreichte das „französische Lager“ gerade 3,2 Prozent der Stimmen. Bei Kriegsausbruch erfaßte die Bevölkerung dieselbe nationale Begeisterung, die auch in den übrigen Teilen des Reiches zu beobachten war.

Diese Situation änderte sich radikal bei Kriegsende. Auf deutscher Seite gab sich im Herbst 1918 kaum jemand der Illusion hin, daß Elsaß und Lothringen beim Reich bleiben könnten. Schon vor dem Abschluß des Friedensvertrages war das Gebiet zu räumen, die zwischenzeitlich diskutierten Pläne zur Schaffung eines neutralen Freistaates erledigten sich rasch angesichts der Entschlossenheit Frankreichs, das, was man als integralen Bestandteil des nationalen „Sanktuariums“ betrachtete, zurückzuholen. 

Das Verlangen nach einer Volksabstimmung wurde von Paris genauso entschlossen zurückgewiesen wie die Forderung nach Garantien für die Bevölkerung. Es kam damit ein Prozeß in Gang, der die erste große ethnische Säuberung in Europa zur Folge hatte, die heute so gut wie vergessen ist. Allerdings hat der elsässische Historiker Bernard Wittmann in einer Reihe von Untersuchungen, zuletzt in seinem Buch „Une épuration ethnique à la française“ die Abläufe minutiös nachgezeichnet. Was dabei deutlich wird, ist nicht nur das Ausmaß der Vertreibungen – es handelte sich um etwa 150.000 Personen, dazu kamen noch 30.000 Menschen, die mehr oder weniger freiwillig ins Exil gingen –, sondern auch die besondere Perfidie der Maßnahmen.

Germanisches „Ungeziefer“, das es auszutilgen galt

Bereits am 2. November 1918 erging von Paris eine ministerielle Verfügung gegen „Boches“ und „Bochophiles“, womit zwischen 23.000 und 24.000 Menschen gemeint waren, die man zwang, sofort ihre Heimat zu verlassen. Neben dem französischen Militär beteiligten sich an den Maßnahmen auch ad hoc gebildete „patriotische Komitees“. In ihnen spielten „Heimkehrer“ eine besondere Rolle, das heißt die Nachfahren jener Familien, die nach 1871 für Frankreich optiert hatten. Sie taten sich bei den Übergriffen besonders hervor. Erlaubt war ihren Opfern bestenfalls die Mitnahme von Handgepäck, dann trieb man sie zu Fuß in Richtung Rheinlinie und bei Kehl über die Demarkationslinie. Vorher hatte man die Betroffenen durch einen Mob gejagt, der sie schlug, beschimpfte und bespuckte; dann wurden sie entwürdigenden Leibesvisitationen unterzogen; Frauen mußten sich vor den französischen Offizieren vollständig entkleiden; es kam immer wieder zu Diebstählen und Körperverletzungen.

Von diesen Maßnahmen waren in erster Linie „Altdeutsche“ betroffen, die Ämter innegehabt hatten. Man erfaßte sie aufgrund Schwarzer Listen, die der französische Geheimdienst seit Kriegsbeginn führte, um „feindliche Personen“ festzustellen. In der Folgezeit systematisierte man die Vertreibung. Die Behörden begannen nach einem ministeriellen Erlaß vom 14. Dezember 1918 mit der Ausgabe von Kennkarten, denen ein Apartheidsystem zugrunde gelegt war, das die verbliebene Bevölkerung nach Abstammung einteilte: Kategorie A galt für diejenigen, deren Familie schon seit wenigstens drei Generationen im Elsaß gelebt hatte; Kategorie B für die, bei denen ein Elternteil die Kennkarte der Kategorie A, der andere nur die deutsche Staatsbürgerschaft besaß; Kategorie C umfaßte Personen, deren Vater und Mutter aus einem während des Krieges neutralen Staat kamen; Kategorie D galt für die, die selbst oder deren Vorfahren erst nach 1870 ins Elsaß zugezogen waren. 

Diese letzteren stellten die überwältigende Mehrzahl der „Unerwünschten“, etwa 93 Prozent. Sie galten als „Doppel-Boche“, durften ihren Wohnort nicht mehr verlassen und wurden in den Folgemonaten deportiert, ihr Eigentum fiel an den Staat, der es zu Schleuderpreisen an Privatleute versteigern ließ. Unter ihnen waren auch fast alle Professoren der hochangesehenen Kaiser-Wilhelm-Universität Straßburg, etwa der Nationalökonom Georg Friedrich Knapp und der Historiker Harry Bresslau. Knapp wurde mit seiner Familie ausgewiesen. Dazu zählte auch seine Tochter Elly, eine entschlossene Kämpferin für das deutsche Elsaß, verheiratet mit dem Journalisten und nachmaligen ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss. Bresslau weigerte sich anfangs, die Stadt zu verlassen, bis die französischen Stellen den Weggang des „militanten Alldeutschen“ jüdischer Herkunft erzwangen. Dasselbe Schicksal traf seine Tochter Helene, die Ehefrau des Theologen und Mediziners Albert Schweitzer. Der nachmalige Friedensnobelpreisträger war mit ihr schon bei Kriegsausbruch in seinem Krankenhaus in Lambaréné (Französisch-Äquatorialafrika) festgesetzt und dann, obwohl der Kategorie A zugerechnet, als „feindlicher Ausländer“ in einem „Konzentrationslager“ – so die offizielle Bezeichnung – interniert worden.

Um den Druck auf die Teile der Bevölkerung zu erhöhen, die als „unerwünscht“ galten, schuf man in der Folge Ausschüsse, die die „débochisation“ vollenden sollten. Sie konnten sich vor allem auf die Denunziationsbereitschaft verlassen und darauf, daß ein großer Teil der Elsässer und Lothringer sich beeilte, seine neue nationale Zuverlässigkeit unter Beweis zu stellen. Die Maßnahmen, die ergriffen wurden, reichten von der Markierung deutscher Geschäfte mit Schildern, auf denen zu lesen war „Maison d’un sale Boche“ – „Haus eines dreckigen Deutschen“, über Flugblätter, die „Kauft nur bei Elsässern“ forderten, und Pressekampagnen gegen das germanische „Ungeziefer“, das es auszutilgen gelte, bis zur willkürlichen Beschlagnahme von Eigentum.

Gleichzeitig gingen die französischen Dienststellen daran, eine massive Unterdrückung aller Personen oder Gruppierungen durchzusetzen, die als prodeutsch galten – etwa in der sozialistischen Arbeiterschaft – oder für eine kulturelle Autonomie eintraten. Dahinter standen auch ein tiefes Mißtrauen, das Paris gegenüber den „Befreiten“ hegte, in denen man trotz aller anderslautenden Beschwörungen keine zuverlässigen Franzosen sah, und die Wiederaufnahme eines seit der Revolution verfolgten Plans, sie vollständig zu assimilieren und sich dann den noch weiter östlich lebenden „zukünftigen Franzosen“ im deutschen Rheinland, in der Pfalz und dem Saargebiet zuzuwenden. Eine Strategie, die letztlich zum Scheitern verurteilt war, aber doch für Elsaß-Lothringen eine Tragödie großen Ausmaßes bedeutete.

Bernard Wittmann: Une épuration ethnique à la française. Edition Yoran, Fouesnant 2016, broschiert, 215 Seiten, Abbildungen, 13 Euro