© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/18 / 23. November 2018

Hier auf Erden schon das Himmelreich errichten
Von der Antike bis zum „kosmopolitischen Ordnungsdenken“ der Gegenwart: Ein Streifzug durch die Parallelwelten der Utopien und Dystopien
Wolfgang Müller

Das Marx-Jahr 2018 hat die letzten kritischen Linken ermuntert, mehr Utopie zu wagen und wieder über Alternativen zum Bestehenden nachzudenken. Der 200. Geburtstag des roten Erzvaters war dafür freilich nur der Auslöser. Ursache ist der Zerfall der linken und sozialdemokratischen Parteien in Europa. 

Dem wollen Post-68er wie der Jenaer Soziologe Klaus Dörre mit einem neuen programmatischen „Narrativ“ begegnen. Die dazu seit langem „überfällige Diskussion“ soll für Dörre der Linken wieder den Mut zu träumen schenken und sie unter dem Banner des „Neo-Sozialismus“ vereinen (Blätter für deutsche und internationale Politik, 6/2018). Man dürfe die „Systemfrage“, also die Präsentation „glaubwürdiger Entwürfe für eine bessere Gesellschaft, die eine Alternative zum real existierenden Kapitalismus darstellen könnten“, keinesfalls den „Rechtspopulisten“ überlassen. Dieser „Verlust des Utopischen“ mache gegenwärtig die größte Schwäche der politischen Linken aus. Deshalb gelinge es ihr nicht, im Gegensatz zu AfD und der Neuen Rechten, die „allgemeine Unzufriedenheit“ und die zur Systemkritik ausgeweitete Gesellschaftskritik für sich zu nutzen.

Dafür stehen die Chancen zumindest so lange schlecht, wie sie sich nicht aus ihrer babylonischen Gefangenschaft in der One-World-Ideologie befreien kann, wie dies einige Linke in ihrer mehr oder minder vorsichtigen Kritik an der Rolle des nützlichen Idioten formulieren, die die Linke in der Migrationsfrage für den globalisierten Finanzkapitalismus spiele. Prominenteste Stimmen sind dabei die Linkspartei-Fraktionschefin Sahra Wagenknecht und ihre jüngst ins Leben gerufene Bewegung „Aufstehen“, der Labour-Chef Jeremy Corbyn oder der US-Demokrat Bernie Sanders.

Auffälligerweise ist es die neoliberale Weltgesellschaftsutopie, die in dem „Utopien“ gewidmeten Heft von Politikum (Sommer 2018), das das Thema ideengeschichtlich von der Antike bis in die Gegenwart so gründlich abhandelt, gar nicht vorkommt. Was jedoch vorkommt, sind die modernen Aneignungen der alten Idee, „hier auf Erden schon das Himmelreich (zu) errichten“ (Heinrich Heine). Und da zeigt die Musterung der Ideenlandschaft des 20. und 21. Jahrhunderts, daß die sozialistische Utopie von der solidarischen Gemeinschaft mit und wegen der Gründung der Sowjetunion für die Massen an Anziehungskraft verlor.

Die Zukunft der Menschheit in Schreckbildern zeichnen

Bereits 1920, nach nur drei Jahren Erfahrung im Staat Lenins, vollzog Jew-geni Samjatin (1884–1937) mit dem Zukunftsroman „Wir“ die Wende von der Utopie zur Dystopie. Die uniformierten, indoktrinierten, zu Nummern degradierten, permanent bespitzelten Bewohner seines „Einzigen Staats“ vegetieren unter der Herrschaft eines „Wohltäter“ genannten Diktators dahin, dessen Schergen die „Seele“ der Unterdrückten als Krankheit diagnostizieren, um sie per Hirn-Operation zu entfernen. Nach Samjatins Modell sind die wirkungsmächtigsten Negativ-Utopien gestaltet, Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“ (1932) und George Orwells „1984“ (1949). 

Nach diesen die Zukunft der Menschheit in Schreckbildern totalitärer Herrschaft ausmalenden Dystopien entstand erst wieder mit der Studenten-, Frauen- und Umweltbewegung um 1970 ein utopiefreundliches Klima. Von „postmateriellen Utopien“ handelnde Romane wie Ursula Le Guins „Planet der Habenichtse“ (1974) oder Ernest Callenbachs „Ökotopia“ nehmen zwar Abschied vom – vor Samjatin & Co. –  positiv besetzten Ideal der homogenisierten Gesellschaft. Aber am Kernziel Solidarität, zumeist moderat genossenschaftlich und pluralistisch projektiert, halten die Autoren genauso fest wie an radikaler Infrage-stellung des Status quo.

Während dieser „realistische“ Utopismus, den der Gymnasiallehrer Martin d’Idler skizziert, jedoch demokratische bis anarchistische Züge trägt, identifiziert der Berliner Politologe Andreas Osiander im kosmopolitischen Ordnungsdenken der Vereinten Nationen ein weiterhin virulentes totalitäres Erbe. Gerade der weltfremde Anspruch, in der internationalen Staatengemeinschaft dauerhaft Frieden stiften zu können, trage regelmäßig zum UN-Versagen bei dessen Durchsetzung bei. In New York hätte man Kant lesen sollen, der lehre, daß dauerhafter Friede nicht unmöglich, aber unmöglich zu stiften sei.

Leider vom Anglisten Richard Nate (Eichstätt) und von Thomas Schölderle (Akademie für Politische Bildung Tutzing) nur angedeutet wird das totalitär-dystopische Potential des Menschenbildes von IT-Giganten im digitalen Zeitalter, das Dave Eggers’ Roman „The Circle“ (2013) beleuchtet und demgegenüber Klaus Dörres gutmenschlicher Neo-Sozialismus als reichlich antiquiert erscheint.