© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/18 / 30. November 2018

„Reflexartig, wie Pawlowsche Hunde“
Verbote in Deutschland, Krawalle in Frankreich; die Debatte um Diesel und Autoabgase tobt. Doch um Umweltschutz geht es dabei gar nicht, so der Bestsellerautor und Statistiker Walter Krämer, sondern um die Vorherrschaft grüner Ideologen
Moritz Schwarz

Herr Professor Krämer, Diesel-Fahrverbote in Deutschland, in Frankreich umweltpolitisch motivierte Benzinpreiserhöhungen, die zu massiven Protesten geführt haben. Legitimer Protest oder Hysterie? 

Walter Krämer: Hysterie – allerdings meine ich damit nicht die Proteste in Frankreich, sondern die Dieselfahrverbote in Deutschland. Das Ganze ist für mich eher ein Fall für die Medizin. 

Sie spielen auf die jährlich 6.000 bis 8.000 Toten durch Diesel-Stickstoffdioxid an?

Krämer: Nein, auf den Diskurs hierzulande. Und mit Medizin meine ich, daß sich die Psychiatrie um diese Debatte kümmern sollte. 

So „irre“ kann die nicht sein, wenn die Medien sie ernsthaft auf diese Weise führen. 

Krämer: Wie kommen Sie darauf? Sie kennen doch auch die Erhebungen, daß unsere Medien zu etwa zwei Dritteln mit rot-grün orientierten Journalisten besetzt sind. Bei den Öffentlich-Rechtlichen sind es sogar eher mehr.

Aber Zahlen – Emissionsmengen, Grenzwerte etc. – lügen doch nicht.

Krämer: Zahlen „lügen“ mitunter doch. Ein Grenzwert von 40 Mikrogramm Stickstoffdioxid im Straßenverkehr ist einfach absurd, wenn gleichzeitig an Arbeitsplätzen 950 Mikrogramm als unbedenklich gelten. Nein, die Mehrheit der Medien ist bei dem Thema nicht vierte Gewalt, sondern Sprachrohr einer rot-grünen Weltverbesserungsidologie.

Ist das nicht polemisch? 

Krämer: Keineswegs, denn viele deutsche Journalisten – im Ausland ist das übrigens anders – sehen sich selbst tatsächlich vor allem als Prediger und Weltverbesserer beziehungsweise halten diese Handlungsmaxime für „Journalismus“.

Offenbar kommen sie damit aber nicht durch, denn inzwischen gibt es um den 40-Mikrogramm-Grenzwert eine Debatte.

Krämer: Ja, und das ist wirklich sehr erfreulich! Aber denken Sie etwa an den Atomausstieg, wo sie in einer ganz wichtigen Zukunftsfrage mit ihrer Propaganda auf ganzer Linie erfolgreich waren. Weil es ihnen über Jahre gelang, massiv Falschinformationen zu verbreiten, etwa über erhöhte Krebsraten in der Umgebung von Kernkraftwerken oder die angeblich „verlorenen Mädchen von Gorleben“ etc. Dadurch konnte bei vielen Bürgern die völlig irrationale Vorstellung durchgesetzt werden, Atomenergie sei „Teufelszeug“. So daß ein Tsunami – denn es war ja nicht der Reaktor, der den Unfall auslöste – am anderen Ende der Welt genügte, um hierzulande die Kernenergie zu beerdigen. Das ging so weit, daß die „Tagesschau“ zum zweiten Jahrestag von Fukushima meldete: „Ein Erdbeben hatte 2011 das Land erschüttert und eine Tsunamiwelle ausgelöst. In der Folge kam es zu einem Reaktorunfall. Dabei kamen etwa 16.000 Menschen ums Leben.“ In Wirklichkeit aber kam bei diesem nur ein Mensch um – und der fiel von einer Leiter. Die Zigtausenden an Toten gingen auf das Konto des Erdbebens und der Flut – mit Fukushima aber haben sie nichts zu tun. Und danach ging es nach gleichem Muster weiter. Dann war mal rotes Fleisch oder Glyphosat das neue „Teufelszeug“, und jetzt ist es eben das Stickstoffdioxid der Diesel. 

Aber an der grundsätzlichen Gefährlichkeit von Radioaktivität und Stickstoffdioxid gibt es doch keinen Zweifel.

Krämer: Natürlich nicht, aber darum geht es nicht. Sondern darum, daß das Thema Umwelt emotionalisiert wird, so daß die meisten Menschen nur noch wie Pawlowsche Hunde reflexartig auf gewisse Informationen reagieren und folglich eine rationale Debatte unmöglich wird. Zudem kann man den Menschen dann auch bequem die ökologische Landwirtschaft aufzwingen oder die Abkehr vom Auto, vom Fleischessen oder, oder, oder ... Und die Mehrheit der Journalisten macht bereitwillig mit.  

Aber den höheren Prozentsatz Mortalität, sprich die bis zu achttausend deutschen Stickstoffdioxid-Opfer pro Jahr, können Sie doch nicht wegdiskutieren?

Krämer: Ihre Frage zeigt, wie leicht man auf diese Propaganda hereinfällt. Denn tot sind letztlich immer hundert Prozent. Von eigentlicher Bedeutung ist aber doch nur, wieviel Lebenszeit uns etwas kostet? Das Thema wird aber ungern auf diese Art und Weise formuliert, weil dann viel leichter erkennbar wäre, wie klein der Anteil des Faktors Stickstoffdioxid eigentlich ist – etwa im Vergleich zu schlechter Ernährung, Alkohol, Zigaretten oder anderen Arten ungesunden Lebenswandels. Sicher, auch all das ist negativ besetzt, aber nichts davon assoziieren wir mit „Teufelszeug“. Im Gegensatz eben zum Glyphosat oder Stickstoffdioxid, obwohl deren Anteil an der Verminderung unserer durchschnittlichen Lebenszeit viel, viel geringer ist – ja im Vergleich ist es geradezu Pipifax oder neudeutsch ausgedrückt: „Peanuts“. 

Wenn das Umweltbundesamt von bis zu 8.000 Toten im Jahr spricht, basierend auf einer Studie, ist das für Sie irrational? 

Krämer: Irrational ist der Umgang mit dieser Zahl. Und fallen Sie bitte nicht auf das Etikett Umweltbundesamt herein. Auch dort haben vor allem grüne Umweltideologen das Sagen. Und wenn ich das Wort „Studie“ höre, dann sträuben sich mir alle Haare. Lesen Sie mal, was Science etwa über epidemiologische Studien schreibt. Diese wohl weltweit angesehenste aller Wissenschaftszeitschriften hat mal versuchsweise einige Panik-Studien untersucht, die für einschlägige „Alarm“-Meldungen über Umwelt und Gesundheit in den Medien verantwortlich waren. Mit dem Ergebnis, daß keine einzige davon der Überprüfung standgehalten hat.  

Sie sind allerdings weder Mediziner noch Chemiker oder Biologe, verfügen Sie überhaupt über Kompetenz, das zu beurteilen?

Krämer: Ich bin Ökonom, aber auch Mathematiker und Statistiker und weiß daher, wie mit Zahlen umzugehen ist. Und wenn diese etwa sagen, daß der negative Einfluß von fettem Essen auf unsere Lebenserwartung weit größer ist als der von Stickstoffdioxid, dann kann ich folgern, daß der Einbau eines Lifts in Ihrem Treppenhaus statistisch ungesünder für Sie ist als der Autoverkehr vor Ihrer Haustür. Ich würde statt eines Dieselverbots deshalb eher ein Verbot für Fahrstühle bis zum dritten Stock erlassen. So wäre unserer Gesundheit mehr gedient. Und raten Sie, was eine Regierung unter dem Aspekt der Gesundheitsschädlichkeit eher verbieten müßte, das schöne, fette Stück Fleisch, das Sie täglich genießen, oder das Stickstoffdioxid, das Sie auf dem Weg zu Ihrem Lieblingslokal einatmen? Sie können sich die Antwort inzwischen wohl denken.  

Der Vergleich überzeugt nicht, denn Fleisch ist gleichzeitig ein wertvolles Nahrungsmittel, Stickstoffdioxid ist nur Gift.

Krämer: Das ist der klassische Irrtum, dem Sie unterliegen, weil auch auf Sie die grüne Propaganda wirkt. Sagt Ihnen der berühmte Paracelsus etwas? Der ist Urheber der einzigen mir bekannten wissenschaftlichen Theorie, die auch heute, nach fünfhundert Jahren, immer noch genauso gilt wie am ersten Tag. „Was das nit Gift ist?“ fragte er. Und antwortete sich selbst: „All’ Ding’ sind Gift und nichts ist ohn’ Gift. Allein die Dosis macht, daß ein Ding kein Gift ist.“ 

Das ist doch bekannt. 

Krämer: Ich meine, Journalisten sollten das je hundertmal abschreiben müssen, damit sie es nicht nur kennen, sondern endlich auch einmal in den Kopf bekommen. Statt Paracelsus wirklich zu begreifen, schwelgen sie geradezu in einer völlig irrationalen Schwarz-Weiß-Malerei, besonders bei der Aufteilung natürlich = gesund und gut und in künstlich = giftig und schlecht. Vor einiger Zeit gab es die 125.000-Euro-Frage in der RTL-Sendung „Wer wird Millionär?“ mit Günther Jauch: „Was ist eine Naturfaser: A. Trevira, B. Dralon, C. Lycra, D. Asbest?“ Darauf wie aus der Pistole geschossen der Kandidat: „D kann ich ausschließen, das ist schädlich, also muß es künstlich sein.“ Und im Umkehrschluß gilt in der Vorstellung der meisten, wenn etwas nicht künstlich, also natürlich ist, könne es nicht schädlich sein. Aber Antwort D war richtig, und der Irrtum hat den Kandidaten 125.000 Euro gekostet. Dieser Automatismus ist nur allzu weit verbreitet: künstlich = riskant, gefährlich, schlecht; natürlich = ungefährlich, gesund und gut. Und das verzerrt die Risikoeinschätzung ganz enorm. Aber zurück zum Thema Dosis. Nehmen wir die britische Hausfrau, die sich an ihrem Haushaltsreiniger verschluckt hat, ihren Apotheker anrief – „Was soll ich tun?“ – und von ihm gesagt bekam: „Trinken Sie viel Wasser!“ Sie trank zwölf Liter und war eine Stunde später tot – Wasservergiftung! Und genauso wie jeder Stoff über einer gewissen Dosis giftig ist, ist jeder Stoff unter einer gewissen Dosis ungiftig. Aber das ist den Redakteuren von Zeitschriften wie etwa Öko-Test wohl niemals richtig zu vermitteln.Übrigens, auch die Belastung von Nahrungsmitteln durch natürliche und künstliche Schadstoffe in unserer Ernährung wird durch jahrzehntelange mediale Desinformation von den meisten völlig falsch eingeschätzt. Wieviel Prozent – an Gewicht gemessen – aller Schadstoffe in unserem Essen sind ihrer Meinung nach schon von Natur aus darin?

Keine Ahnung, zehn Prozent?

Krämer: 99,9 Prozent. Das heißt nicht, daß die verbleibenden künstlichen 0,1 Prozent unbedenklich sind. Aber sie okkupieren einen völlig disproportionalen Teil der Medienberichterstattung.

Mit Ihren Büchern – etwa „So lügt man mit Statistik“, „Wie wir uns von falschen Theorien täuschen lassen“ oder „Die Angst der Woche. Warum wir uns vor den falschen Dingen fürchten“ – setzen Sie dagegen. Aber kommt man mit Aufklärung gegen Ideologie und Emotionalisierung an?

Krämer: Im Einzelfall schon, wenn man den Leuten zeigt, wie man Daten richtig interpretiert. So betrachten wir es meist als negativ, daß heute so viele Menschen an Krebs sterben. Schuld ist angeblich – also entsprechend dem Credo der rot-grünen Medienmafia – unser verantwortungsloser Umgang mit unserer Gesundheit und der Umwelt. In Wahrheit aber geht die Wahrscheinlichkeit, an Krebs zu sterben, in unserem Land seit Jahrzehnten in fast allen Altersklassen monoton zurück! Daß dennoch immer mehr Sterbenden bei uns dem Krebs zum Opfer fallen, liegt einfach daran, daß immer mehr von uns, Gott sei Dank, in die Altersklasse Achtzig Plus hineinwachsen. Und da ist Krebs sozusagen die letzte Hoffnung des Sensenmannes.

Klingt ehrlich gesagt ein wenig wie ein zynischer Taschenspielertrick. 

Krämer: Dann haben Sie es immer noch nicht verstanden. Wenn ich nochmal neu geboren werden könnte und der Liebe Gott sagt zu mir: „Krämer, wo willst du hin? In welchem Land der Erde willst du geboren werden?“ dann sage ich: „Lieber Gott, bitte zeige mir doch mal das Statistische Jahrbuch der UN!“ Und dann blättere ich darin herum und suche mir als das Land der Erde, in dem ich geboren werden und möglichst lange leben will, das mit der höchsten Krebsmortalität. Unter den größeren Ländern sind darunter derzeit unter anderem Island und Japan, mit einer deutlich höheren Krebsmortalität als bei uns. Aber das sind zugleich auch unter den größeren Ländern die mit der höchsten Lebenserwartung. Eine hohe Krebsmortalität ist also ein positiver Qualitätsindikator. Aber kapiert das ein „Tagesschau“-Redakteur?

Auch wenn die Diesel-Debatte durch die „Ökoideologie“ übertrieben geführt wird, heißt das nicht, daß Abgase kein Thema sind. Was müßte aus der Debatte herausgenommen werden, um sie auf dem Niveau zu führen, das ihrer tatsächlichen Notwendigkeit entspricht und vernünftig ist?  

Krämer: Unsere ganze Herangehensweise müßte sich ändern. Nehmen Sie etwa die Berufshysteriker der Zeitschrift Öko-Test, die jeden Monat irgendwo neue Schadstoffe finden. Natürlich, alles ist in allem drin, wie selbst der Spiegel einmal in seltener Einsicht konzedieren mußte. Daß irgendwo ein „Gift“ gefunden wird, ist also eigentlich keine Meldung wert, solange seine Menge unter einer gewissen Schwelle bleibt und es folglich gar kein Gift ist.

Weisen Zeitschriften wie „Öko-Test“ denn nicht auf Menge und Grenzwerte hin? 

Krämer: Ich habe mal probeweise einen kompletten Jahrgang daraufhin durchgearbeitet: In über der Hälfte der entsprechenden Meldungen war keine Rede von Mengen – statt dessen war der Tenor: Ätsch, wir haben was gefunden! Daß das aber womöglich völlig irrelevant war, das war offenbar auch für die Redakteure völlig irrelevant. Für eine Schlagzeile reicht es eben immer noch zu verkünden: „Dioxin in der Wurst!“ Dabei ist da ganz natürlich Dioxin drin, wenn auch nur in mikroskopischen Mengen – wie überall, auch in Ihrem Bier oder Ihrer Buttermilch, wenn Sie kein Bier trinken. Deshalb kann die Debatte um den Diesel erst dann vernünftig geführt werden, wenn wir aufhören, auf antrainierte Reizmuster zu reagieren und statt dessen wieder den Mut finden, uns unseres Verstandes zu bedienen. 






Prof. Dr. Walter Krämer, lehrt Wirtschafts- und Sozialstatistik an der Technischen Universität Dortmund und schreibt Gastbeiträge für zahlreiche Medien, wie FAZ, Welt, Focus oder Neue Zürcher Zeitung. Außerdem war er Mitglied in zahlreichen Fachgremien, etwa bis 2003 im wissenschaftlichen Beirat für den Armutsbericht der Bundesregierung oder bis 2011 im Beirat des Rheinisch-Westfälischen Instituts

für Wirtschaftsforschung (RWI). 1997 gründete der 1948 in Ormont in der Eifel geborene Statistiker zudem den Verein Deutsche Sprache (VDS). Bekannt ist „der Vielschreiber“ (Spiegel) nicht zuletzt durch seine zahlreichen Bücher, wie das „Lexikon der populären Irrtümer“, „Modern Talking auf deutsch“ oder  „Kalte Enteignung. Wie die Euro-Rettung uns um Wohlstand und Renten bringt“.

Foto: Analyseexperte Walter Krämer: „Die Mehrheit unserer Medien ist beim Thema Umwelt nicht etwa vierte Gewalt, sondern das Sprachrohr einer rot-grünen Weltverbesserungsideologie“

 

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