© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/18 / 30. November 2018

Migrationsdebatte zermürbt die Genossen
Linkspartei: Sahra Wagenknechts „Aufstehen“-Bewegung wird nicht nur in der Parteispitze kritisch beäugt
Paul Leonhard

Wenn jemand in Deutschland weiß, wie die Unzufriedenen ticken, dann ist es Sahra Wagenknecht. Landauf, landab gründen ihre Sympathisanten Ortsgruppen der von der Linken-Politikerin initiierten Sammlungsbewegung „Aufstehen“. Die populäre Wagenknecht verschafft sich ein Wählerreservoir, von dem andere Politiker nur träumen können.

Der Wandel Wagenknechts von der Führerin der Kommunistischen Plattform zu einer Politikerin, die zwar noch immer von einer ideal-kommunistischen Welt träumt, aber dabei im Gegensatz zu vielen Linken die Wirklichkeit nicht aus dem Blick verliert, ist bemerkenswert. Während ihre Partei Asylbewerbern den uneingeschränkten Zugang zu Deutschlands Sozialsystemen ermöglichen will, spricht Wagenknecht die Ohnmacht an, die viele Menschen im Land empfinden, die soziale Ungleicheit und den Ausschluß ganzer Bevölkerungsteile. 

Trotzdem wird der fortschreitende Aufbau der Basisorganisation „Aufstehen“ inzwischen von der Parteispitze kritisch gesehen. Wagenkecht wird einerseits vorgeworfen, ihre Arbeit als Vorsitzende der Bundestagsfraktion zu vernachlässigen, andererseits gegen den auf dem Leipziger Bundesparteitag im Sommer beschlossenen Leitantrag zu verstoßen, in dem offene Grenzen für alle gefordert werden. Eine Forderung, die „die die meisten Leute als völlig irreal und weltfremd empfinden und damit ja auch recht haben“, sagte Wagenknecht im Vorfeld der „Unteilbar“-Demonstration Mitte September. Auch der Uno-Migrationspakt müsse kritisch betrachtet werden, merkte sie kürzlich an, schließlich idealisiere er Migration und klammere die Ursachen dafür aus. „So ist er vor allem im Interesse großer Unternehmen.“ 

Die Wellen der Empörung schlagen nicht zuletzt deshalb hoch. Wagenknecht betreibe – auch über ihre Sammlungsbewegung – „rigoros den Versuch einer Korrektur beschlossener Flüchtlingspolitik und wird dafür genauso rigoros bekämpft“, sagte der frühere Bundestagsabgeordnete Frank Tempel, Mitglied im Parteivorstand, im MDR. Die Linke befinde sich in einem Zustand, der ohne weiteres zur Spaltung führen könne. 

„Wenn die Fraktionsvorsitzende in wichtigen Fragen mit einer Organisation Politik macht, die in eine andere Richtung als die von uns beschlossene geht, werde die Fraktion das auf Dauer nicht akzeptieren,“ warnte auch Stefan Liebich, außenpolitischer Sprecher der Fraktion, in der taz. Wagenknecht müsse sich entscheiden, wo ihr Herz schlägt: „Ob es links schlägt oder für ‘Aufstehen’, die sich meiner Kenntnis nach nicht als linke Organisation beschreiben.“ Was Liebich besonders erbost: Es war der linke Parteiflügel um Wagenknecht und Oskar Lafontaine, der die Formulierung „offene Grenzen für Menschen in Not“ im Grundsatzprogrammentwurf in „offene Grenzen für alle Menschen“ umformulieren ließ. So sei es dann 2011 auf dem Parteitag beschlossen worden, und wenn „man das ändern will, muß man sich in eine seriöse Debatte begeben“. Die Linke müsse klären, wie man sich bei den Fragen Globalisierung, Migration und Zukunft Europas „strategisch aufstellen“ sollte, verlangt Fraktionsgeschäftsführer Jan Korte. 

Teile der Linken können sich durchaus vorstellen, die populäre Frontfrau Wagenknecht zu entmachten. Eine erste Palastrevolution ist bereits gescheitert. „Der Landesausschuß der Linkspartei in Niedersachsen hat mit übergroßer Mehrheit einen Abwahlantrag gegen Sahra Wagenknecht abgelehnt“, teilte der Bundestagsabgeordnete Diether Dehm Anfang November auf Facebook mit.

„Aufstehen“ entwirft Regierungsprogramm

Entscheidend für die Entwicklung der Linken wird auch sein, wohin SPD und Grüne steuern. Denn sowohl Parteichefin Katja Kipping als auch Wagenknecht spekulieren mit Blick auf die abgewirtschaftete Merkel-CDU auf eine Beteiligung an der nächsten Bundesregierung. Auf die Frage der Jungen Welt, ob sich mit SPD und Grünen sowohl der Sozialabbau der letzten 20 Jahren rückgängig machen als auch eine Ausweitung des Asylrechts sowie der legalen Einreisewege bis hin zu offenen Grenzen durchsetzen lasse, reagierte Kipping mit der Gegenfrage: „Ist es realistischer, daß wir das angesichts des Rechtsrucks in der Opposition durchsetzen?“ Auch die Initiatoren der „Aufstehen“-Bewegung entwarfen kürzlich ein erstes „linkes Regierungsprogramm“.

Wagenknecht und Kipping sind – bei aller persönlichen Feindschaft – inhaltlich gar nicht so weit auseinander. Bei der Forderung nach „offenen Grenzen für alle“ gehe es „nicht um eine unmittelbare Umsetzungsperspektive“, sondern „um eine Haltungsfrage“, hatte Kipping bereits im Oktober 2017 der taz versichert.  

Auf einer Klausursitzung von Parteivorstand und Bundestagsfraktion zum Thema Migration will Parteivorsitzender Bernd Riexinger am 30. November die Anwesenden davon überzeugen, „daß die Führungskräfte von Partei und Fraktion das vertreten, was in einem demokratischen Prozeß von der Partei beschlossen wurde“. Aber selbst wenn es dem Linken-Chef gelingt, einen Burgfrieden an der Parteispitze zu schließen, droht spätestens am 10./11. Januar neuer Streit. Dann kommen die Abgeordneten zu einer weiteren Klausursitzung zusammen.