© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/18 / 30. November 2018

Schlupflöcher geöffnet
Einwanderungsgesetz: Entwurf der Regierung senkt Hürden bei Arbeitsmigration
Paul Rosen

Der Fachkräftemangel ist überall spürbar. Das weiß jeder, der einmal versucht hat, schnell einen Handwerker zu bekommen oder im Krankenhaus auf ausländisches Personal, das kaum zu verstehen war, gestoßen ist. Für die Große Koalition liegt die Lösung auf der Hand: Zuwanderung aus dem Nicht-EU-Ausland soll den Mangel beheben und „die Fachkräftesicherung durch eine gezielte und gesteuerte Zuwanderung von Fachkräften aus Drittstaaten flankieren und so einen Beitrag zu einem nachhaltigen gesellschaftlichen Wohlstand leisten“, heißt es in einem Referentenentwurf der Bundesregierung für ein „Fachkräfteeinwanderungsgesetz“. Der Entwurf, der noch in diesem Jahr vom Bundeskabinett beschlossen werden soll, liegt der JUNGEN FREIHEIT vor. Ob das Gesetz – prahlerisch als „kohärenter Gesamtansatz ineinander greifender und aufeinander abgestimmter Maßnahmen“ bezeichnet – wie versprochen wirkt, ist fraglich, weil die geplante Absenkung von Qualifikationsstandards noch nie ein Problem gelöst hat. Ebenso dürften manche Vorschriften ein Eigenleben entwickeln und den von der Union vehement abgelehnten, aber von der SPD propagierten „Spurwechsel“ von abgelehnten Asylbewerbern in die Arbeitsmigration befördern. 

Wie sehr der Fachkräftemangel die Wirtschaftskräfte behindert, machen einige Zahlen deutlich: Das Institut der deutschen Wirtschaft hat berechnet, daß 440.000 qualifizierte Stellen – vom Arzt bis zum Handwerksgesellen – in Deutschland unbesetzt sind. Insgesamt sind sogar 1,2 Millionen Stellen unbesetzt. Um 30 Milliarden Euro könnte das Bruttoinlandsprodukt höher sein, wenn diese Stellen besetzt wären. Es würde aber noch schlechter um die Wirtschaft stehen, wenn ausländische Fachkräfte nicht schon längst einige Reihen schließen würden: 3,5 Millionen Ausländer sind hierzulande sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Davon sind 1,3 Millionen aus dem EU-Ausland, die weitgehend ohne Beschränkungen in Deutschland Arbeit aufnehmen können. Von anerkannten Asylbewerbern drängt nur ein kleiner Teil in den Arbeitsmarkt: So sollen nach einem FAZ-Bericht von den seit 2015 rund 900.000 anerkannten Asylbewerbern nur 200.000 eine Arbeit aufgenommen haben. 

Welche Folgen die EU-Binnenmigration nun wieder in den Herkunftsländern hat, zeigt beispielhaft der Fall Kroatien: Das Land zählt etwas über vier Millionen Einwohner, von denen allein 170.000 in Deutschland arbeiten. Durch den „Brain-

drain“, wie die Flucht junger Talente aus ihrer Heimat auch bezeichnet wird, leiden EU-Länder wie Kroatien oder Ungarn selbst massiv unter Fachkräftemangel, der wiederum durch Arbeitskräftemigration zum Beispiel aus der Ukraine ausgeglichen wird. Unternehmen, die Produktionslinien in Kroatien aufgebaut haben, versuchen wiederum, ihre Werke in Nicht-EU-Länder wie Serbien oder Montenegro zu verlegen. So bildete sich durch den deutschen Fachkräftemangel, der zum Großteil auf die seit Jahrzehnten zu niedrigen Geburtenzahlen zurückzuführen ist, in Teilen Europas ein Migrations-Karussell.

Einreise zur Stellensuche erlaubt

Das Karussell könnte sich durch die neuen Vorschriften noch schneller drehen. Vom Grundsatz her werden die Schleusen nach Deutschland weit geöffnet: „Wenn ein Arbeitsvertrag oder eine anerkannte Qualifikation vorliegen, können Fachkräfte in allen Berufen, zu denen sie ihre Qualifikation befähigt, arbeiten“, heißt es im Referentenentwurf, der gleich – aus Sicht der Initiatoren – einen alten Zopf abschneidet: Die Regelung, daß ein Zugereister nur dann eine Stelle in Deutschland annehmen kann, wenn diese Stelle nicht mit eigenen Leuten oder Arbeitnehmern aus dem EU-Ausland besetzt werden kann und außerdem ein Engpaß in der angestrebten Branche besteht, wird gestrichen. 

Zugleich wird die Qualifikation abgesenkt. Denn auch in der Bundesregierung hat man längst gemerkt, daß „ausländische Ausbildungsabschlüsse häufig nicht den für eine Anerkennung erforderlichen Anforderungen“ entsprechen (Seite 79 des Entwurfs). Die Lösung: Für Einreise und Arbeitsaufnahme reicht zunächst eine Teilqualifizierung. Die Wissenslücken müssen dann in Deutschland mit einem „Weiterbildungsplan“ geschlossen werden. Zur Neuregelung gehört auch, daß Fachkräfte für sechs Monate einreisen dürfen, um sich in Deutschland eine Stelle zu suchen. Ernähren können müssen sie sich aber selbst, und auch mit dem neuen Gesetz werde es keine Migration in die Sozialsysteme geben, versichert die Regierung, die darauf hinweist, daß in den ersten fünf Jahren des Aufenthaltes der Bezug von Sozialhilfe ausgeschlossen ist. Was es aber früher gibt, ist Arbeitslosengeld. 

Auch wenn der Referentenentwurf den Grundsatz der Trennung von Erwerbsmigation und Asyl bestätigt, werden Schlupflöcher geöffnet. Bisher gibt es bereits eine „Ausbildungsduldung“, wonach Flüchtlinge während einer Lehre nicht abgeschoben werden dürfen und nach dem Abschluß noch zwei Jahre weiter in Deutschland arbeiten dürfen. Die Anforderungen werden gesenkt. Unter Ausbildungsduldung fällt auch, wer in einem Helferberuf angelernt wird (früher bekannt als „Hilfsarbeiter“). Außerdem wird der neue Status einer „Beschäftigungsduldung“ geschaffen. Sie gilt für Ausländer, die eigentlich ausreisepflichtig sind, aber seit mindestens eineinhalb Jahren einen Arbeitsplatz haben. Für sie soll es eine zweijährige Beschäftigungsduldung geben – spätere Daueraufenthaltsgenehmigung nicht ausgeschlossen. Es gibt also mehrere Spuren, auf die gewechselt werden kann – und gewechselt werden dürfte, auch wenn einschränkende Voraussetzungen genannt werden – von Grundkenntnissen in Deutsch bis hin zur Klarheit über die Identität des Ausländers.