© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/18 / 30. November 2018

Erst neue Arbeitsplätze, dann Kohleausstieg
Energiepolitik: Drei mitteldeutsche Ministerpräsidenten gehen auf Konfrontationskurs zur Kohlekommission / Strukturwandel ein „Zweigenerationenprojekt“?
Paul Leonhard

Die Bundesregierung beschäftigt sich derzeit nicht nur mit dem Kohleausstieg, sondern auch mit der geplanten Erweiterung des Braunkohletagebaus Turów unweit der heute polnischen Grenzstadt Reichenau in Sachsen (Bogatynia). Der Staatskonzern Polska Grupa Energetyczna (PGE) will seine Ende April 2020 auslaufende Abbaulizenz bis 2044 verlängern. Und PGE will künftig bis zu 300 Meter tief fördern dürfen. Während Hydrologen vor der Auswaschung von Uran, Quecksilber und Cadmium in den Grenzfluß Neiße warnen, warnt PGE vor der Gefährdung Tausender polnischer Arbeitsplätze.

Ein Vorgang, der in den deutschen Tagebauen genau beobachtet wird. Allein in der Lausitz stehen dank Angela Merkels Energiewende etwa 22.000 Arbeitsplätze auf dem Spiel. Die Ministerpräsidenten der vom Kohleausstieg betroffenen mitteldeutschen Länder Sachsen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg – Michael Kretschmer, Reiner Haseloff (beide CDU) und Dietmar Woidke (SPD) – haben auf die bisherige Arbeit der von der Bundesregierung eingesetzten Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ („Kohlekommision“) mit einem Protestschreiben an die Kanzlerin reagiert.

„Politisch verantwortete Arbeitslosigkeit“

Es dürfe nicht sein, daß das „einzig Konkrete an diesem Ausstieg die Festlegung auf das Jahr ist, zu dem dieser erfolgen soll“, warnte Haseloff in einer Regierungserklärung vor dem Magdeburger Landtag. Sachsen-Anhalt, hier ist das Mitteldeutsche Revier betroffen, erwarte, daß neue Arbeitsplätze geschaffen werden, bevor die alten wegfallen. Die Kosten für sein Bundesland schätzte Haseloff auf mindestens zehn Milliarden Euro. Die Hälfte davon sei nötig, um neue Industriearbeitsplätze zu schaffen.

Während für Sachsen-Anhalt ein Kohleausstieg bis zum Jahr 2035 feststeht und nur die AfD zur Braunkohle hält, wehren sich die Bergleute besonders in Sachsen und Brandenburg. Bei einer Betriebsversammlung in Schwarze Pumpe vor 3.500 Arbeitern sagte Helmar Rendez, Chef der Lausitzer Energie-, Bergbau- und Kraftwerks AG (Leag), daß die allermeisten Menschen in der Lausitz „keine Abfindungen für politisch verantwortete Arbeitslosigkeit“ wollten, sondern ordentlich bezahlte Arbeitsplätze. Der Konzernbetriebsrat sagte, daß ein schrittweiser Kohleausstieg bis mindestens Mitte der 2040er Jahre das „Äußerste an Kompromißbereitschaft“ seinerseits darstelle.

„Die Voraussetzungen, wie der Strukturwandel auch mit eigenen Kräften bewältigt werden kann, sind sehr unterschiedlich“, räumte die frühere Grünen-Chefin Gunda Röstel, die Mitglied der Kohlekommission ist, gegenüber der Sächsischen Zeitung ein. Während das Rheinische Braunkohlerevier von urbanen Zentren (Aachen, Düsseldorf, Köln) und vielfältigen Industriestrukturen umgeben sei, finde die industrielle Wertschöpfung in der Lausitz in Sachsen und Brandenburg fast ausschließlich durch die Energiewirtschaft statt.

Die Ansiedlung neuer Industrien scheiterte hier durchgängig seit 1990, auch aufgrund der schlechten Infrastruktur. Die Eisenbahntrasse zwischen Dresden und Breslau ist beispielsweise erst ab der polnischen Grenze elektrifiziert. Die wenigen vorhandenen Industriebetriebe wie Siemens und Bombardier stehen immer wieder vor der Schließung (JF 4/18). Wie soll in dieser ländlichen, von den Spuren der Braunkohlegewinnung gezeichneten Region der Strukturwandel gelingen? Die Kohlekommission kann zwar Fragen zum Klimaschutz beantworten und den Zeitpunkt für den Kohleausstieg empfehlen – ein Konzept für einen erfolgreichen Strukturwandel gibt es bislang aber nicht.

Dieser ist nicht allein mit Fördermittel-Milliarden zu stemmen, sondern erfordert eine Umsiedlung staatlicher Behörden in Größenordnungen. Ein paar Forschungsinstitutionen reichen nicht aus. Der Strukturwandel in der Lausitz werde ein „Zweigenerationenprojekt“, ist sich die 56jährige heutige Managerin Röstel inzwischen sicher. Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Haseloff geht von mindestens 30 Jahren aus.

Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ (Offizielle Kohlekommision):  www.kommission-wsb.de

Klima-Allianz Deutschland des Vereins Forum Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft (FÖS):  www.kohlekommission.org