© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/18 / 30. November 2018

Geschult an Lenin
Emotionale Verstrickungen eines Weltoffenen: Der Internationalist Stephan Wackwitz weist eine sehr deutsche Bildungsbiographie auf
Wolfgang Müller

Stephan Wackwitz hat jetzt mehr Zeit zum Schreiben, da der 65jährige Schriftsteller seinen Brotberuf als Kulturfunktionär an den Nagel hängen durfte. In diesem Frühjahr ist er als Leiter des Goethe-Instituts im weißrussischen Minsk in den Ruhestand verabschiedet worden.

Wackwitz nutzte die neu gewonnene Freiheit bereits, um in zwei umfangreichen Essays erste Eindrücke bei der „Rückkehr in ein Land der Hysterie“ (Die Zeit vom 12. April 2018) zu schildern und schon nach acht Wochen in der neuen Wahlheimat Berlin eine Zeitdiagnose aus der Sicht des rundum versorgten linksliberalen Wohlstandsrentners zu wagen („Ein Lichtfunke, der in mich fiel“, Die Zeit vom 9. August 2018). In diesen Texten offeriert der Alt-68er, was zum Markenzeichen des Autors Wackwitz geworden ist: die autobiographische Spiegelung der in seiner Generation vorherrschenden ideologischen Dispositionen. 

In solchen literarischen Exerzitien steckt noch viel vom protestantisch-pietistischen Erbe des gebürtigen Schwaben, das moralisch zu zwanghafter Gewissensprüfung und permanenter Selbstreflexion nötigt, aber auch den Hang zu manichäischer Einteilung der Welt und zur religiösen Überforderung der Politik begünstigt. Tiefere Einblicke in dieses Herkunftsmilieu gewährte Wackwitz selbst in der „Familienroman“ genannten Dokumentation „Ein unsichtbares Land“ (2003) sowie in der Collage „Die Bilder meiner Mutter“ (2015).

Im „Familienroman“, der den Bogen von Schleiermacher bis zu Rudi Dutschke, dem lutherisch tönenden Prediger der Studentenrebellion spannt, wird ausgebreitet, was der Autor als „Unentrinnbarkeit von Abstammung und Verwandtschaft“ erfahren hat. Trotzdem war die eigene Intellektuellenexistenz geradezu manisch darauf fixiert, sich aus dieser „emotionalen Verstrickung“ in die nationalprotestantische Väter- und Großväterwelt soweit wie möglich zu „befreien“. Deren Prägemacht war freilich nicht gering. Der mütterliche Großvater, ein harter schwäbischer Aufsteigertyp, trat 1932 in die NSDAP ein, fungierte 1935 als Blockwart seines Wohngebiets. Beim väterlichen Großvater, Andreas Gustav Wackwitz, kam es aus der Enkelperspektive noch dicker: Veteran des Ersten Weltkriegs, Eisernes Kreuz am Talar, in der Wolle gefärbter Deutschnationaler, Teilnehmer am Kapp-Putsch, bis 1933 Pastor und Grenzkämpfer im polnisch besetzten Ost-Oberschlesien, unweit Auschwitz, anschließend auf „Vorposten“ als Gottesmann in der ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika, nach der Rückkehr Seelsorger in Luckenwalde und – der „Familienroman“ geht all diesen Bezügen auf der Suche nach dem „Deutschsein an sich“ nach – somit Hirte auch des dort 1940 geborenen Rudi Dutschke. 

Er fordert den Umbau zum Einwanderungsland

Wie an unzähligen Karrieren seit den 1960ern abzulesen ist, schlug bei solchen Kindern und Enkeln von „Nazis“ das weltanschauliche Pendel heftig in die Gegenrichtung aus. Der junge Wackwitz reagierte mit radikalen Abwendungen vom Eigenen. Zunächst, als Kind noch, habe er sich anhand eines opulenten New Yorker Ausstellungkatalogs mit dem Titel „The Family of Man“ in eine „Weltgemeinschaft“ hineingeträumt, „zu der ich dringend gehören wollte“. In der Studienzeit traf ihn der zweite „Lichtfunke“ des Internationalismus, Lenins „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“. In Blaubeuren, wo Johann Albrecht Bengel 200 Jahre zuvor die millenarische Erlösung der Welt erwartete, habe er 1972 an einem Lektürekurs teilgenommen, der mit „derselben Inbrunst, mit der pietistische Konventikel“ Bengel lasen, sich mit dem Traktat des bolschewistischen Weltrevolutionärs beschäftigte. Folglich heißt es rückblickend: „Als ich ausreiste“ – 1982, auf den ersten Posten an einem Goethe-Institut – „war ich Marxist“.  

Nicht mehr lange, denn der Untergang des „Ostblocks“, New Yorker Erfahrungen sowie der Einfluß des befreundeten Publizistenpaares Michael und Katharina Rutschky (JF 31/18) entzündeten einen neuen „Lichtfunken“. Wackwitz stürzte sich auf das Werk des US-Philosophen Richard Rorty (1931–2007). Lieber vergißt der unbeirrbar postnationale Vielflieger seine Zahnbürste als die Bücher dieses Vordenkers der Weltgesellschaft. Rorty ist bis heute sein Prophet geblieben. Dessen paßgenau auf den globalistischen Multikulturalismus zugeschnittener neoliberaler „Antiessentialismus“ ist ihm die unbezweifelbare Heilslehre, die ihren Gläubigen rät, ihre kulturellen Wurzeln zu kappen, überlieferte Substanzen, Normen und Werte aufzulösen, um auf den „Tauschmärkten der Theorien“ den Sinn des Lebens und die Spielregeln des sozialen Zusammenlebens in „alltagsrelevanten Diskursen täglich neu auszuhandeln“.

Im Geist Rortys und der Re-Education missioniert der Pfarrersenkel Wackwitz verstärkt seit 2015 und fordert rituell den „längst fälligen Umbau der deutschen Gesellschaft und Mentalität zum Einwanderungsland“. Dieser universalistische „Mythos“ von der Migranten-Gesellschaft, der den der „Family of Man“ seiner Kindertage vitalisiert, sei im Unterschied zu Lenins Weltkommunismus nun wirklich „menschenfreundlich“. Versichert Wackwitz. Um im gleichen Absatz den totalitären „Umbau von Mentalitäten“ anzudrohen, den schon Lenin ins Werk setzte. Und das täglich wachsende Heer jener Einheimischen, die von Migranten getötet, vergewaltigt, beraubt, verletzt, beleidigt und ausgebeutet werden, ebenso zu vergessen wie den „Raubbau und die Zerstörung der Gemeingüter“ (Gerd Held, Achse des Guten, 13. September 2018), die Masseneinwanderung automatisch nach sich zieht. Für Wackwitz kein Problem, weil er Fremden hierzulande vornehmlich als Dienstpersonal begegnet und sich an der „Lachlust afrikanischer Taxifahrer“ oder der „Entspanntheit der Umgangsformen in türkischen Restaurants“ ergötzt.