© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/18 / 30. November 2018

UN-Migrationspakt – Motive und Folgen
Der Hebel von Marrakesch
Martin Wagener

Auf ihrem Treffen in Marokko am 10. und 11. Dezember 2018 wollen die Staats- und Regie-rungschefs der Uno einen Migrationspakt abschließen. Bereits seit 2016 wird an der Vereinbarung gearbeitet, die den sperrigen Titel „Globaler Pakt für sichere, geordnete und reguläre Migration“ trägt. Die Entwurfsfassung liegt seit dem 13. Juli 2018 vor und soll nun in Marrakesch verabschiedet werden. Für den inneren Frieden in Deutschland kann das 34 Seiten umfassende Dokument Folgen haben.

Worum geht es? Im Dezember 2017 erklärte die Uno, daß es weltweit 258 Millionen Migranten gebe. Ihr Schicksal zu verbessern ist das offizielle Ziel des Treffens der Staats- und Regierungs­chefs in Marokko. Tatsächlich geht die Stoßrichtung des UN-Migrationspakts aber noch wesentlich weiter. Ihm liegt die Idee einer Weltgemeinschaft zugrunde, in der alle Bürger solidarisch miteinander umgehen und die gleichen Rechte haben. Das ist in der Theorie eigentlich nicht neu, wie ein kurzer Blick in die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ von 1948 zeigt. Und doch gibt es einen feinen Unterschied: Migration soll langfristig zu einem Recht eines jeden Erdenbürgers werden, und die Staaten sollen sich verpflichten, wanderungswilligen Menschen zu helfen, in das Land ihrer Wahl zu gelangen.

Reece Jones, Professor für Geographie an der Universität Hawaii (Manoa), argumentiert seit vielen Jahren in diese Richtung („Violent Borders. Refugees and the Right to Move“, 2016). Seiner Auffassung nach gehe von Grenzen „strukturelle Gewalt“ aus, weshalb er ihre globale Abschaffung fordert. Das Plädoyer für eine transnationale Bewegungsfreiheit aller Menschen wird normativ begründet. Jones vergleicht eingeschränkte Migrationsmöglichkeiten, die heute durch den Geburtsort festgelegt werden, mit dem einst eingeschränkten Wahlrecht einzelner Bürger, das etwa an die Hautfarbe oder das Geschlecht gebunden war. Beides wird als anachronistisch eingeordnet.

Die gegenteilige Auffassung wird vom deutschen Philosophen Julian Nida-Rümelin vertreten („Über Grenzen denken. Eine Ethik der Migration“, 2017). Er glaubt nicht daran, das Weltelend durch eine „Politik der offenen Grenzen“ bekämpfen zu können. Die Kosten für die Migration seien hoch und könnten das eigene Leben gefährden; im Aufnahmeland würde ein erheblicher Aufwand für die Integration betrieben; zudem sei an das Schicksal der Zurückgebliebenen zu denken. Nida-Rümelin erkennt in der Beachtung von Grenzen durchaus einen Sinn: „Ohne Grenzen werden die Lebensformen amorph, sie haben dann keine erkennbare Gestalt mehr, wir wissen dann nicht, wer welcher Akteur ist, wer für was verantwortlich ist, welche Normen und Werte die jeweiligen Praktiken repräsentieren.“

Derzeit gibt es kein international anerkanntes Recht auf freie Migration. Das Völkerrecht hat sich seit dem Ende des Ost-West-Konflikts aber immer mehr in eine Richtung entwickelt, die zu einer Relativierung staatlicher Souveränität beiträgt. Parallel dazu sind die Menschenrechte gestärkt worden. Grundsätzlich ist dies zu begrüßen, es können aber auch nichtgewünschte Nebenwirkungen entstehen. Dies wäre dann der Fall, wenn Staaten im Rahmen des internationalen Rechts zu einer Migrationspolitik gezwungen werden, die von der Bevölkerung des Aufnahmelandes abgelehnt wird. Wer die dabei absehbar entstehenden Interessenkonflikte ignoriert, trägt – wie seit 2015 in Deutschland – zur Polarisierung der Gesellschaft bei.

Die Motive der Regierung liegen auf der Hand. Mit dem Pakt dürfte versucht werden, die unkontrollierte Masseneinwanderung seit 2015 nachträglich zu legitimieren. Der Umbau Deutschlands zum Einwanderungsland könnte internationale Weihen erfahren. 

Es ist nicht erkennbar, daß der UN-Migrationspakt eine solche Entwicklung unmittelbar einleitet. Ganz im Gegenteil. Im Entwurf heißt es ausdrücklich, das Dokument sei „rechtlich nicht bindend“. Das „souveräne Recht der Staaten, ihre nationale Migrationspolitik zu bestimmen“, wird bestätigt. Dazu gehört auch ihr „Vorrecht, Migration innerhalb der eigenen Rechtsprechung zu regeln“. Es wäre also völlig unsinnig, aus dem Text eine Art Auftrag oder gar Verschwörung zur „Umvolkung“ herauslesen zu wollen. Kritiker könnten eigentlich zufrieden sein, enthält der Pakt doch auch Aussagen zur Bekämpfung des Menschenschmuggels und wortwörtlich zur „Verhinderung irregulärer Migration“.

Wenn aber gleich mehrere Staaten im Vorfeld des Gipfeltreffens ankündigen, das Dokument nicht unterzeichnen zu wollen, drückt dies doch eine große Sorge aus. Zu ihnen gehören die USA, Ungarn, Österreich, Tschechien, Bulgarien, Estland, Polen, Israel, Australien und die Slowakei. Erhebliche Vorbehalte sind auch in der Schweiz, Kroatien und Dänemark zu vernehmen. Für diese Regierungen ist es offensichtlich irrelevant, daß der Migrationspakt rechtlich nicht bindend ist. Sie dürften befürchten, daß die Absichtserklärungen für die innenpolitische Auseinandersetzung instrumentalisiert werden.

Dieser Verdacht ist durchaus plausibel, zeichnet das Dokument doch ein überwiegend positives Bild von Migration, in der sehr einseitig eine „Quelle des Wohlstands, der Innovation und der nachhaltigen Entwicklung in unserer globalisierten Welt“ erblickt wird. Politisch links bis liberal ausgerichtete Parteien, Medien, Menschenrechtsgruppen, Vertreter der Kirchen, aber auch Unternehmen mit einem hohen Bedarf an Niedriglohnarbeitern könnten geneigt sein, den Pakt als Hebel zu benutzen, um ihren politischen Überzeugungen oder ökonomischen Interessen Ausdruck zu verleihen. Verwaltungsgerichte würden ihn bei Ermessensentscheidungen heranziehen.

Die nun häufig zu lesenden Hinweise, auf dem Gipfeltreffen in Marokko werde kein Recht auf Migration begründet, sind nur zum Teil richtig. Denn der Pakt kann durchaus eine Entwicklung anstoßen, über die langfristig ein solches Völkergewohnheitsrecht entsteht. Genau dem wollen die Unterschriftsverweigerer vorbeugen. Vor allem in den Staaten Mittel- und Osteuropas ist klar zu erkennen, daß die dortigen Regierungen sich nicht nur um die Souveränität, sondern auch um die nationale Identität ihrer Länder sorgen. Nicht ohne Grund. Der international renommierte Entwicklungsökonom Paul Collier hat auf einen einfachen Zusammenhang hingewiesen: „Migration schafft Auslandsgemeinden, und Auslandsgemeinden schaffen Migration.“ („Exodus. Warum wir Einwanderung neu regeln müssen“, 2014)

Zumindest für Deutschland ist der Hinweis darauf, daß das Dokument rechtlich nicht bindend sei, unerheblich. Das Auswärtige Amt hat bereits in einer Mitteilung vom 16. Juli 2018 deutlich erklärt, wie mit der Vereinbarung umgegangen werden soll. Ihr wird nicht nur eine „hohe politische Signalwirkung“ zugeschrieben. Es geht um mehr: „Migration ist wesentlicher Bestandteil menschlichen Zusammenlebens.“ Man sehe sich in dieser Frage in der „Verantwortung“. Für die Bundesregierung muß kein völkerrechtlicher Vertrag vorliegen, um aktiv zu werden. Eine Absichtserklärung reicht, wie das Auswärtige Amt erklärt: „Deutschland wird sich gemeinsam mit seinen Partnern für eine erfolgreiche, umfassende und effektive Umsetzung der im Globalen Migrationspakt festgehaltenen Ziele und Maßnahmen einsetzen.“

Die Motive der Bundesregierung liegen in dieser Frage auf der Hand. Mit dem UN-Migrationspakt dürfte versucht werden, die unkontrollierte Masseneinwanderung seit 2015 nachträglich zu legitimieren. Gibt es zumindest Ansätze eines Rechts auf Migration, dann könnte Bundeskanzlerin Angela Merkel geradezu als Vorreiterin dieser Entwicklung angesehen werden. Je mehr Staaten das Dokument unterzeichnen, desto besser wäre es für die Bundesrepublik – zumindest aus der Sicht der verantwortlichen Entscheidungsträger.

Je größer in den Staaten des entwickelten Nordens die Diaspora-Gemeinschaften werden, desto umfassender fallen die Rücküberweisungen der Migranten in die eigene Heimat aus. Für Europa haben diese Überweisungen einen kritischen Neben­effekt.

Der Umbau Deutschlands zum Einwanderungsland könnte internationale Weihen erfahren, obwohl Umfragen immer wieder erkennen lassen, daß die Mehrheit der Deutschen mit einem solchen Vorgehen nicht einverstanden ist. CDU, CSU und SPD haben diese Stimmen im Koalitionsvertrag ignoriert, der eine jährliche Zuwanderung von 180.000 bis 220.000 Menschen anstrebt. Um das deklarierte Ziel in der Bevölkerung ideologisch durchzusetzen, braucht es Legitimationsmechanismen.

Von offizieller Seite wird der Pakt im Inland wie im Ausland in höchsten Tönen gelobt und als Meilenstein der Migrationspolitik betrachtet. Die meisten Staaten des industrialisierten Nordens betonen ihre moralischen Verpflichtungen. Dabei kommt ein Punkt viel zu kurz, der in den besonders unterentwickelten Teilen Afrikas ganz nüchtern gesehen wird: Große Teile des Südens verfolgen im Rahmen dieser Entwicklung eindeutig Interessen. Sie scheinen für viele Vertreter des Nordens im Nebel diplomatischer Erklärungen nicht mehr erkennbar zu sein.

Das erste Interesse: Regionen, die unter Überbevölkerung leiden, sind aufgrund der prekären Versorgungslage auf der Suche nach Entlastung. Dabei geht es um die Auswanderung vor allem junger, meist arbeitsloser Menschen, die in gesellschaftlichen Krisenlagen das größte Protestpotential bilden. In Afrika leben derzeit 1,3 Milliarden Menschen, noch 1990 waren es nur 635 Millionen. Die Bevölkerung wächst mit einer hohen Dynamik, etwa alle zwölf Tage kommt eine Million Afrikaner hinzu. Unter diesen Bedingungen ist es sehr schwer, wenn nicht unmöglich, stabile Staaten zu schaffen, die ihren Bürgern hinreichend Lebensperspektiven bieten.

Das zweite Interesse des verarmten Südens: Je größer in den Staaten des entwickelten Nordens die Diaspora-Gemeinschaften werden, desto umfassender fallen die Rücküberweisungen der Migranten in die eigene Heimat aus. Genaue Zahlen lassen sich nicht ermitteln. Nach Schätzungen der Weltbank lagen die Überweisungen der Diaspora in Entwicklungsländer 2017 bei 466 Milliarden Dollar. Das ist mehr als der dreifache Betrag der weltweiten Entwicklungshilfe! Für Europa haben diese Überweisungen einen kritischen Neben­effekt. Sie tragen dazu bei, viele Menschen in den Stand zu versetzen, die eigene Flucht in den Norden finanzieren zu können.

Eine Studie des Institute of Labor Economics in Bonn stellte 2017 fest, daß Menschen erst ab einem Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf von 10.000 Dollar im Jahr (gemessen in Kaufkraftparitäten) bereit sind, die Zukunft in der eigenen Heimat zu planen. Unterhalb dieser Schwelle gibt es eine erhebliche Migrationsneigung, wenn die Wanderung finanzierbar ist. In der Subsahara lag das entsprechende BIP pro Kopf 2017 bei 3.806 Dollar. Je mehr Staaten den UN-Migrationspakt umsetzen wollen, desto stärker wird sich dieses Dokument daher als Pakt zur massiven Förderung von Migration nach Europa entpuppen.

Die Bundesregierung sollte daher die Vereinbarung in Marrakesch nicht unterschreiben, sondern ihre Entwicklungs- und Migrationspolitik grundlegend überdenken. Entscheidungen, die langfristig zum Ausbau von Parallelgesellschaften mit eigenen Werten und Regeln beitragen, gefährden den inneren Frieden Deutschlands. Steuerungskapazitäten wird die Bundesregierung in der Migrationsfrage zudem nur dann zurückerhalten, wenn sie bereit ist, die Kontrolle über die eigene Grenze wiederzuerlangen.






Prof. Dr. Martin Wagener, Jahrgang 1970, unterrichtet seit 2012 Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Internationale Politik an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Brühl und Haar. Zuvor war er ab 2009 Juniorprofessor an der Universität Trier. Im August 2018 ist sein Buch „Deutschlands unsichere Grenze. Plädoyer für einen neuen Schutzwall“ erschienen    (JF 38/18).

Foto: Weltweite Migration: Einwanderung soll langfristig zu  einem Recht werden, und die Staaten sollen sich verpflichten, wanderungs-willigen Menschen zu helfen, in das Land ihrer Wahl zu gelangen