© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/18 / 30. November 2018

Blicke nach Westen in Rosarot
Von wegen Sonderweg: Ein besonderes deutsches Demokratiedefizit gab es nicht
Wolfgang Müller

Auf der letzten UN-Vollversammlung in New York, präsentierte Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) sein Land als Musterschüler des „Multilateralismus“ (Vereinte Nationen, 5/2018). Dieses Fremdwort, das nichts anderes meint als das System vertraglich geregelter zwischenstaatlicher Beziehungen, scheint jetzt die Ersatzvokabel für die mittlerweile reichlich ausgeleierte Phrase von der „Weltoffenheit“ der „neuen Deutschen“ zu sein. Auch der globalistisch timbrierte Wirtschaftsanwalt und CDU-Hinterbänkler Stephan Harbarth, den die personell ausgebrannte Merkel-Regierung am 8. November überraschend ins Gefecht schickte, um im Bundestag den Global Compact for Migration schönzureden, stimmte das Hohelied des „Multilateralismus“ an: „Seit 1945“, gemeint war natürlich 1949, als die westdeutsche Bundesrepublik gegründet wurde, habe Deutschland endlich seine Geschichtslektion gelernt und sei den „großen Herausforderungen“ nicht mehr auf sich allein gestellt begegnet. Stattdessen wählte es dafür „das Mittel multilateraler Abkommen“ (FAZ vom 14. November).   

Dem Durchschnitt des politisch-medialen Komplexes entsprechend historisch ungebildete Figuren wie Maas und Harbarth, für die deutsche Geschichte erst im Mai 1949 – nach von ihnen gefühlten tausend Jahren „Nazi-Herrschaft“ – beginnt, würden sich vermutlich auch nicht nach einem Blick in den „Vertrags-Ploetz“ korrigieren. Müßten sie dann doch zugeben, daß die Bundesrepublik keineswegs das multilaterale Rad erfunden hat. Vielmehr war die Einbindung des Deutschen Reiches in das fein justierte Gleichgewichtssystem der „großen Mächte“ (Leopold von Ranke) und ins „Dickicht der Pakte“ (Ernst Niekisch) noch eine Weile über 1933 hinaus die außenpolitische Norm für die Herren in der Wilhelmstraße. Reichskanzler Otto von Bismarck durfte sich rühmen, mit fünf Bällen, den konkurrierenden Großmächten, jonglieren zu können. Er galt als Schiedsrichter Europas, weil er das Kaiserreich für saturiert erklärt und seine Sicherheit in einem Gewebe von völkerrechtlichen Verträgen verankert hatte. Ohne die Souveränität des Nationalstaates preiszugeben, genausowenig wie Gustav Stresemann, sein bedeutendster Nachfolger, der die in Versailles zum Paria degradierte Weimarer Republik sukzessive in den Kreis der Großmächte zurückbrachte.   

Deutscher Sonderweg aus Furcht vor dem Sonderweg

Die Besonderheit des radikalen bundesdeutschen Multilateralismus besteht nun darin, sich zwecks nationaler Selbstaufgabe international zu binden. Ein Schlüsselsatz der Rede, die Angela Merkel am 13. November hielt, wiederholte den kategorischen Imperativ dieser Politik der Selbstabschaffung: Interessen und Bedürfnisse anderer Staaten müsse Deutschland prinzipiell als „eigene Interessen“ begreifen.

Außerhalb Deutschlands ist ein derart verantwortungsloser Altruismus bislang unbekannt. Die europäische Mittelmacht wandelt also offenkundig auf einem multilateralen Sonderweg. Man geht nicht fehl in der Annahme, daß die politische Klasse ihr Handeln damit auf vertrackte Weise an einem Mythos orientiert. Es ist der „Mythos vom deutschen Sonderweg“. Der beherrschte die geschichtspolitischen Debatten der Bonner Republik und erzählt von der „verspäteten Nation“ (Helmuth Plessner), die als preußisch geformter „Obrigkeitsstaat“ den Anschluß an die „modernen Gesellschaften“ und demokratischen Verfassungsstaaten des Westens verpaßt habe, womit geradezu geschichtslogisch die Weichen in Richtung NS-Herrschaft gestellt worden seien.

Wissenschaftlich ist die „Sonderweg-These“ heute weitgehend obsolet, obwohl einer ihrer prominentesten Multiplikatoren, der Berliner Historiker Heinrich August Winkler, sie weiterhin kolportiert. Politisch ist die Fabel vom Sonderweg jedoch wirkungsmächtig wie eh und je. Wie die permanenten Beschwörungen des Multilateralismus zeigen. Und woraus sich die paradoxe Außenpolitik der Berliner Republik ergibt: aus Furcht vor dem Sonderweg souveräner Interessenwahrnehmung den Sonderweg des nationalen Interessenverzichts einzuschlagen.

Daß eine hoffnungslos überholte Geschichtsideologie die neudeutsche Multilateralismus-Protzerei diktiert, hat die vergleichende Demokratiegeschichte in den vergangenen zehn Jahren mit einer Fülle von Monographien und Aufsätzen erwiesen. Wobei sich ausgerechnet angelsächsische Historiker als die fleißigsten Kritiker der pauschal den „Westen“ anhimmelnden deutschen Kollegen hervortaten. So ist es nicht verwunderlich, daß eine der frühen und führenden Protagonistinnen der transnationalen demokratischen Perspektive, die in Berkeley lehrende Margaret Lavinia Anderson, auch an dem „Demokratiegeschichten“ gewidmeten Heft von Geschichte und Gesellschaft (2/2018) mit provokanten, im besten Sinne revisionistischen Thesen beteiligt ist.

Anderson, die bereits 2009 eine bahnbrechende Untersuchung über „Wahlen und politische Kultur im Deutschen Kaiserreich“ vorgelegt hat, versieht den Titel ihres Aufsatzes „Ein Demokratiedefizit?“ mit einem signifikanten Fragezeichen. Sie vergleicht darin das Kaiserreich mit den vermeintlichen Musterdemokratien England, Frankreich und USA. Am Ende fällt ihr die Antwort auf die Frage leicht: Eher wies dieser „Westen“ ein Demokratiedefizit auf als der Staat Bismarcks. Nur hätten schon dessen zeitgenössische, „liberale“ Kritiker, von Theodor Mommsen über Hugo Preuß bis zu Max Weber, durch eine „rosarote Brille“ westwärts geblickt und die dortigen Verhältnisse zum normativen Ideal verklärt, das sie mit dem frei konstruierten deutschen Sonderweg kontrastierten.

Ein eklatantes Demokratiedefizit macht Anderson zunächst in Großbritannien aus. Wahlrecht und Wahlregelungen seien in Deutschland weitaus demokratischer gestaltet gewesen als in der angeblich „politisch fähigsten Nation der modernen Welt“ (Hugo Preuß, 1886). Denn Bürokratie und Parteischikanen hinderten auf der Insel nicht weniger als 27 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung an der Aufnahme in die Wählerlisten. Zudem galt bis 1914 das Pluralwahlrecht, das großen Reichtum begünstigte. In London konnte ein begüterter Mann daher bis zu 31 Wahlstimmen abgeben, sofern er in den 30 Parlamentswahlkreisen über Grundbesitz verfügte. Da Wahlen als Privatangelegenheiten galten, trug nicht wie in Deutschland der Staat, sondern die Kandidaten die Kosten. Was wiederum Kandidaten mit „tiefen Taschen“ unerreichbare Vorteile verschaffte. Die ohnehin im Rennen um Mandate vorne lagen, weil, wiederum anders als im Reich, nur Bürger mit einem Einkommen von 300 Pfund wählbar waren. Zudem galt das Wahlrecht als „Marktware“ und Stimmen wurden bezahlt. Solche „Bestechung erheblichen Ausmaßes war in Deutschland fast unbekannt“.

Nicht besser schneiden im Vergleich die USA und Frankreich ab. Dort hatten bis zum Ende des Bürgerkriegs (1865) vier Millionen Afroamerikaner kein Stimmrecht. Danach stand es jahrzehntelang nur auf dem Papier. In der französischen Advokaten-Republik etablierte sich eine ähnliche Korruptionsstruktur wie in England heraus, und das Allgemeinwohl wurde einer undemokratischen Vetternwirtschaft geopfert. 

Interessant ist, wie Anderson den ältesten „Schlager“ der Sonderwegs-Barden pariert: die fehlende parlamentarische Kontrolle über das Militär, die für Liberale auch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges mitverursachte. Dagegen sei nur auf Frankreich zu verweisen, wo ein souveränes Parlament während der Dreyfus-Affäre an der Macht der Generale scheiterte. Und für die „Julikrise 1914“ genüge ein Blick nach London, wo die Kriegserklärung unter Ausschaltung des Parlaments erfolgte. 

So dekonstruiert Anderson Stück für Stück den Mythos vom Sonderweg und schreibt der bundesdeutschen Politik ins Stammbuch, daß es keinen Grund gebe, aus der Geschichte auszusteigen, weil sie „vordemokratisch“ gewesen sei. „Vieles ging nach 1914 in Deutschland schief, aber nicht, weil das Kaiserreich mit einem besonderen Demokratiedefizit belastet war.“