© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/18 / 30. November 2018

Der zivile Sputnik-Schock
Das Wirtschaftswunder aus Dresden-Klotzsche: Vor 60 Jahren startet das erste deutsche Passagierflugzeug mit Düsenantrieb
Paul Leonhard

Vor sechzig Jahren erleidet Westdeutschland eine Art „Sputnikschock“: In Dresden ist das erste strahlgetriebene Passagierflugzeug Deutschlands gestartet, made in GDR. Der Erstflug der legendären „152“ ist ein Erfolg. „Die Zone will Düsenflugzeuge bauen“, staunt die Frankfurter Allgemeine Zeitung, und die Welt prophezeit gar ein „Wirtschaftswunder aus Dresden“.

Genau das ist das Ziel von SED-Chef Walter Ulbricht. Er will eine eigene Luftfahrtindustrie aufbauen, die ihre innovativen Produkte weltweit verkaufen soll. So könne der kleine Arbeiter- und Bauernstaat aller Welt seine wirtschaftliche Überlegenheit sowohl gegenüber dem westdeutschen „Klassenfeind“ als auch gegenüber dem „großen Bruder“, der Sowjetunion, beweisen, so das Kalkül Ulbrichts. Die Basis bildet das Turbinenstrahl-Passagierflugzeug 152, eine Kurz- bzw. Mittelstreckenmaschine mit Platz für bis zu 73 Passagiere. An der Entwicklung weiterer Prototypen, der 153, 154, 155 und des Langstrecken-Düsenjets 160, wird in den Büros hektisch gearbeitet. Zwar endet das Ganze wenige Jahre später im Fiasko und kostet die DDR-Volkswirtschaft zwei Milliarden Ost-Mark, vorerst steht das ehrgeizige Vorhaben aber unter einem guten Stern.

Brunolf Baade war früherer Junkers-Chefkonstrukteur

Zum einen befinden sich die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges mitten im Kalten Krieg und sind vor allem damit beschäftigt, immer mächtigere Bomber zu entwickeln, zum anderen sind ehemalige Junkers-Mitarbeiter nach Jahren der Zwangsrekrutierung für die Sowjet-union gerade in die DDR zurückgekehrt. Unter ihnen befindet sich Brunolf Baade, als ehemaliger Chefkonstrukteur der Junkers-Werke in Dessau für Entwicklung und Bau des von Strahlturbinen angetriebenen schweren Bombers Ju 287 zuständig. Ein Prototyp startete kurz vor Kriegsende in Leipzig, ein zweiter in der Nähe von Moskau. Baade und die anderen deutschen Experten müssen nach 1945 ihre Forschungsarbeiten in der UdSSR fortsetzen, wo der Strahlbomber Samoljot 150 entstand.

Im Auftrag des VEB Flugzeugwerke Dresden, der seit 1956 die propellergetriebene Iljuschin 14P in Lizenz fertigt, entwickeln sie ab 1957 aus dem Junkers-Bomber und seinem sowjetischen Nachfolger ein düsengetriebenes Verkehrsflugzeug. Bereits ein Jahr später, im April 1958, kann das erste deutsche Passagierstrahlflugzeug einer jubelnden Öffentlichkeit in Dresden-Klotzsche vorgestellt werden. Ulbricht ist begeistert. Er will die Sowjets überraschen. Dem SED-Chef schwebt vor, daß die Maschine 1959 dem zur Frühjahrsmesse in Leipzig erwarteten Stalin-Nachfolger Nikita Chruschtschow bei einem Überflug „brüderliche Kampfesgrüße“ funkt.

Was Ulbricht nicht weiß: Bei der Vorführung in Dresden handelt es sich lediglich um ein Rollout. Die Triebwerksgondeln sind noch leer. Überhaupt weist die Maschine erst einen Fertigungsgrad von 30 Prozent auf. Als der Turbojet mit dem Luftfahrzeugkennzeichen DM-ZYA schließlich am 4. Dezember 1958 zum ersten Probeflug startet, wird sie von sowjetischen Nachbrenntriebwerken Tumanski RD-9B angetrieben, statt der vorgesehenen Eigenentwicklung Pirna 014. Der Erstflug ist ein voller Erfolg, aber schon beim Zweitflug am 4. März 1959 kommt es zur Katastrophe. Die Maschine stürzt nach 55 Minuten nahe Ottendorf-Okrilla ab. Die vierköpfige Besatzung kommt ums Leben. Die für zwei Tage später angesetzte Demonstration vor Chruschtschow ist damit geplatzt. Der mißglückte Flug wird zum Staatsgeheimnis erklärt, der DDR-Düsenjet zu einem Mythos verklärt, über den in den folgenden Jahrzehnten besonders in Dresden viel spekuliert wird.

Erst nach dem Untergang der DDR werden die Untersuchungsergebnisse bekannt. Danach trägt wohl auch Baade einen Teil der Schuld. Der Ingeneur hatte den Flugkapitän gebeten, aus großer Höhe in den Sinkflug zu gehen, um dann mit eingefahrenem Fahrwerk extrem niedrig zu fliegen, damit Film- und Fotoaufnahmen für Werbezwecke angefertigt werden können. Der Jet stürzte jedoch aufgrund eines Strömungs-abrisses infolge eines zu hohen Anstellwinkels ab, weil die Besatzung das Flugzeug beim Abfangen aus einem zu steilen Sinkflug mit leerlaufenden Triebwerken bei gleichzeitig zu später Schuberhöhung zu stark angestellt habe, wie es es in dem Untersuchungsbericht heißt, der sofort von der Stasi beschlagnahmt wurde.

Sowjetunion zog ihre Kaufzusagen zurück

Weitere Testflüge im August und September 1960 verlaufen erfolgreich, aber Ulbricht hat das Interesse an dem Projekt verloren, die Sowjetunion bereits Ende 1959 ihre Zusage, 100 Maschinen kaufen zu wollen, zurückgezogen. Zudem verliert die 152 wegen Problemen mit dem Tanksystem ihre Flugzulassung. Frühestens 1963 hätten die Flugzeugwerke die ersten Maschinen ausliefern lassen, mindestens vier Jahre später als ursprünglich vorgesehen. Nicht einmal die staatseigene Interflug erklärt sich bereit, das inzwischen unmoderne Fluggerät zu kaufen. Am 28. Februar 1961 wird auf Beschluß des Politbüros der SED der Flugzeugbau in der DDR eingestellt, die fertiggestellten Jets werden verschrottet.

Überdauert hat lediglich der Rumpf mit der Werknummer 011. Dieser diente bis 1989 auf dem NVA-Flugplatz in Rothenburg als Bereitschafts- und Lagerraum. Restauriert und um das Bugteil ergänzt, gehört er heute zu den Exponaten des Dresdner Verkehrsmuseums und ist im Rahmen von Führungen auf dem Flughafen Dresden-Klotzsche zu besichtigen.