© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/18 / 30. November 2018

Das Machtvakuum an der Adria
Freistaat Fiume und Gabriele d’Annunzio: Südslawen und Italiener ringen nach dem Ersten Weltkrieg um den Hafen an der dalmatinischen Küste
Erich Körner-Lakatos

Vielleicht noch weniger als der kurzzeitig 1947 ins Leben gerufene Freistaat Triest dürfte das ähnliche Schicksal der Stadt Fiume nach dem Ersten Weltkrieg im Bewußtsein verankert sein. 

Fiume – das römische Tersatica, die Deutschen nennen die Siedlung St. Veit am Pflaumb, die Slawen Rijeka – bildet gemäß Artikel 66 des ungarisch-kroatischen Ausgleichs ein corpus separatum coronae Sancti Stephani, wird praktisch von Budapest verwaltet. Die Hafenstadt umfaßt eine Fläche von bloß 21 Quadratkilometern. Nach der Volkszählung von 1910 leben hier 24.212 Italiener und 12.926 Kroaten (26 Prozent); dazu kommen 6.493 Ungarn sowie jeweils knapp über 2.300 Slowenen und Deutsche. 

Im Londoner Geheimvertrag vom 26. April 1915 verspricht die Entente Fiume den Südslawen, weil die einen großen Adria-Hafen benötigen; im Gegenzug sollen Triest, ganz Istrien mit dem wichtigen Kriegshafen Pula, Zara (Zadar) in Dalmatien und die Insel Cherso (kroatisch Cres) an Italien fallen. Gegen Ende Oktober 1918 meutert Fiumes Garnison und okkupiert die Stadt für Agram (Zagreb). Im Gegenzug proklamieren die Italiener der Hafenstadt den Anschluß an Rom. Um den Streit zu schlichten, geht im November eine britisch-französisch-amerikanische Friedenstruppe an Land. 

Italiens Öffentlichkeit ist in Aufruhr, Rom pocht auf Wilsons „Vierzehn Punkte“, von denen die italienischen Politiker andernorts – Südtirol, Kanaltal – nichts wissen wollen, schließlich hat die Devise vom Sacro Egoismo („Italiens heiliger Eigennutz“) Hochsaison. Doch der US-Präsident erklärt im April 1919 einer römischen Abordnung ohne Umschweife, die Amerikaner stünden auf seiten des SHS-Staates (später Jugoslawien), da Fiume dessen einziger Hafen wäre. Später schlagen die Vereinigten Staaten einen Freistaat Fiume-Rijeka vor. Aber daraus wird nichts – zumindest vorerst.

Am 12. September 1919 sammelt Gabriele d’Annunzio bei Monfalcone eintausend Freiwillige – ehemalige Frontkämpfer, Abenteurer und faschistische Squadristi  – und besetzt die Stadt im Handstreich. Die Franzosen verhalten sich neutral, während Engländer und Amerikaner schmollend abrücken. Eine Woche später verlangt der „Condottiere“ auch die Gegend um Abbazia und die Inseln Veglia und Arbe.

Italiens Marine beendet D’ Annunzios Herrschaft

Während Italien über den Coup jubelt, bleiben die übrigen Ententemächte unnachgiebig. Sie setzen Rom unter Druck, so daß die Regierung Mitte Oktober eine Truppen- und Seeblockade über Fiume verhängt. Vergebens, denn D’Annunzio hält straff die Zügel der Macht in seinen Händen. Eine Volksabstimmung ergibt am 26. Oktober 1919 eine Mehrheit von 6.999 zu 156 Stimmen für den Anschluß an Italien.

Am 4. Juni 1920 erlischt durch den Vertrag von Trianon die formal noch immer bestehende Souveränität Ungarns. D’Annunzio proklamiert daraufhin die „Carta del Carnaro“, die mit ihren Korporationen Vorbild für den faschistischen Staat wird. Die gesetzgebende Versammlung Fiumes heißt Degli Ottimi Consiglio (Rat der Besten).

Im Rapallo-Vertrag vom 12. November 1920 verzichtet Rom gegenüber Belgrad auf Dalmatien. Großserbien wiederum ist schweren Herzens einverstanden, aus Fiume einen Freistaat unter Kontrolle beider Vertragsteile zu bilden. In D’Annunzios Augen ist der Verzicht Roms blanker Verrat. Der „Condottiere“ in Fiume antwortet mit der Besetzung der Inseln Veglia und Arbe (Rab). Weit im Süden scheitert eine Invasion von Traù (Trogir) wegen eher zufällig anwesender US-Kriegsschiffe. 

Dann geht D’Annunzio – auch nach dem Dafürhalten vieler seiner Anhänger –  einen Schritt zu weit: Er erklärt am 3. Dezember 1920 seinem Vaterland Italien den Krieg! Premier Giovanni Giolitti entsendet kurzerhand ein Expeditionskorps von 20.000 Mann unter General Enrico Caviglia. Das Schlachtschiff Andrea Doria beschießt D’Annunzios Amtssitz. Die Gefechte mit den dreitausend Verteidigern dauern vom 24. bis 28. Dezember 1920, der „blutigen Weihnacht“. 

Die Sieger erklären Fiume zum Freistaat (Libera città di Fiume), das Gebilde erhält eine Regierung unter Riccardo Zanella. Ein gutes Jahr später wandelt sich die Lage grundlegend. Am 3. März 1922 übernehmen die Faschisten die Macht in Fiume, Zanella flieht nach Kroatien, bildet eine fiumanische Exilregierung. 

Im Vertrag von Rom vom 27. Januar 1924 kann Benito Mussolini seinen ersten außenpolitischen Erfolg einfahren: Belgrad überläßt Fiume den Italienern, lediglich der slawisch besiedelte Vorort Susak fällt an das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen. Mitte März kommt König Vittorio Emanuele III. an Bord des Kreuzers Brindisi nach Fiume, man feiert den Anschluß.