© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/18 / 30. November 2018

Geschichte gewährt keinen Rabatt
Der Historiker Yuval Noah Harari legt mit seinem Buch „21 Lektionen im 21. Jahrhundert“ eine „Big History“ der Gegenwart vor
Felix Dirsch

Yuval Noah Harari gilt als einer der weltweit meistgelesenen Historiker. Seine in narrativer wie inhaltlicher Hinsicht glänzenden Darstellungen „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ und „Homo Deus“ begründeten seinen Erfolg. Der israelische Gelehrte versteht es meisterhaft, lange zurückliegende Entwicklungen der Vergangenheit mit denen der Gegenwart zu verbinden und auf dieser Basis den Versuch zu unternehmen, zukünftig wahrscheinliche Szenarien zu beschreiben.

Sein Streifzug durch die Historie hat es in sich: Wie der liberale Humanismus vor Jahrhunderten das theozentrische Weltbild abgelöst hat, steht er in der Gegenwart vor einem fundamentalen Paradigmenwechsel: Der Homo sapiens sapiens als das „Wesen der Langsamkeit“ (Odo Marquard) verliert mehr und mehr die Kontrolle über rasch lernende Maschinen wie AlphaZero, dem neuen Supercomputer im Schachspiel (und weit darüber hinaus). Eine neue Schwelle der Menschheitsgeschichte ist längst Realität. Für unsere Spezies, so belegt Harari, ist diese Zäsur mit nachhaltigen Konsequenzen verbunden. Wenn menschliche Fähigkeiten immer stärker entwertet werden, so ist fraglich, ob die Ausstattung mit besonderen Rechten immer so selbstverständlich wie heute sein wird. Muß man Verlierern überhaupt einen Wert wie Würde zusprechen? Erst recht erfahren Freiheit und Gleichheit eine spürbare Bedeutungsminderung. Wer den Zugang zu technischen Superintelligenzen besitzt, hält den Schlüssel zu allen Vorteilen.

Hariri hat keinen Bezug zu Religion und Patriotismus

Auf Kritik stieß Hararis Einschätzung des Menschen als biochemischer Funktionsmechanismus. Der alte Adam mit seinen über Jahrhunderttausende gewachsenen Strukturen ist dem bio- und informationstechnischen Algorithmus unterlegen, der längst sogar Emotionalität simulieren kann. Selbst ethische Abwägungsprozesse sind nicht mehr alleinige Domäne des Menschen. Das gefeierte autonome Individuum ist aus dieser Sicht schon deshalb ein Auslaufmodell, weil dessen Entscheidungen denjenigen von künstlicher Intelligenz unterlegen sind, die unser Leben in immer stärkerem Maße bestimmen – mit unabsehbaren Folgen für Leben und Arbeitsalltag.

Harari schreibt seine bisherigen Erfolge fort. Seine neueste Schrift beginnt als große Nabelschau der Gegenwart mit dem Kapitel „technologische Herausforderung“. Danach stellt der Autor Überlegungen zur politischen Lage an. Nach dem Abschnitt „Verzweiflung und Hoffnung“, der Erörterungen über Terrorismus, Krieg, Demut, Gott und Säkularismus umfaßt, folgen die Teile „Wahrheit“, die heute bereits maßgeblich computergeneriert ist, und „Resi-lienz“. Verschiedene Disziplinen wie Geschichte, Computerwissenschaft, Genetik und so fort werden herangezogen.

Diese interdisziplinäre Perspektive bringt einen wichtigen Vorteil mit sich: Sie bewahrt vor üblichen Oberflächlichkeiten. Wenn Harari das omnipräsente Thema „Populismus“ erwähnt, sieht er die primäre Ursache im Protest menschlicher Ohnmacht gegenüber künstlicher Intelligenz.

Die Fülle der Themen, die Harari meist en passant behandelt, ist beeindruckend. Er kann als Vertreter der global operierenden linken Eliten mit Religion und Patriotismus wenig anfangen, mehr schon mit der These vom menschengemachten Klimawandel. Fake News sind deshalb ein bevorzugtes Machtinstrumentarium, da die Herrschenden längst ihr Monopol auf (im Überfluß vorhandene) Informationen verloren haben, während früher tendenzielle Knappheit an Nachrichten herrschte. Das verändert jedoch auch den Lehr- und Unterrichtsbetrieb grundlegend, ist die Generierung von Wissen in einer solchen Situation doch völlig unnötig. 

Angesichts beinahe unendlicher Manipulationsmöglichkeiten und rascher Veränderungen in allen Bereichen überrascht es nicht, daß Harari die Zukunft als so offen wie in keiner früheren Epoche beschreibt. Sämtliche „haltenden Mächte“ (Hans Freyer) entlarvt er als Fiktion. Welche orientierungsstiftenden Geländer bleiben dann noch für den Zeitgenossen? Es ist deshalb schwierig, den Rat des 42jährigen zu befolgen und danach zu suchen, wer wir sind und wie die Zukunft unserer Spezies aussieht. Solche Szenarien gemäß der Wahrscheinlichkeit durchzuspielen, ist dennoch unabdingbar, da auch die gegenwärtige Generation vorhandene Möglichkeiten nutzen muß. Einen Rabatt hat die Geschichte in keinem vergangenen Zeitalter gewährt. Sie tut es auch heute nicht.

Yuval Noah Harari: 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert. Verlag C. H. Beck, München 2018, gebunden, 459 Seiten, 24,95 Euro