© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/18 / 07. Dezember 2018

Christophe Guilluy analysiert die Selbstzerstörung Frankreichs durch seine Eliten.
Das Ende der Gesellschaft
Friedrich-Thorsten Müller

Die Wucht der sogenannten „populistischen“ Welle hat für manches Orchideenfach der Wissenschaft auch ihr Gutes. Nach den Demographen, die den Jungmänner-Überschuß außereuropäischer Gesellschaften („Youth bulge“) als Erklärung für die einsetzende Völkerwanderung gen Europa in den Diskurs eingebracht haben, stößt im gärenden Frankreich nun die Sozialgeographie auf offene Ohren.

Ihr meistbeachteter Vertreter ist der 1964 in Montreuil geborene Christophe Guilluy, der in Paris in kleinen Verhältnissen aufwuchs und dessen Familie nur knapp dem Schicksal entging, in die Banlieue umziehen zu müssen. Da er sich eine Promotion nicht leisten konnte, verfügt er nur über ein Master-Diplom, das er aber immerhin an der Sorbonne erwoben hat. Viel mehr zählt jedoch, daß er sich als Berater für Sozialgeographie französischer Gebietskörperschaften und durch etliche Bücher einen Namen gemacht hat: Jüngst erschien „No Society“(etwa: Das Ende der Gesellschaft), und selbst Präsident Emmanuel Macron hat inzwischen mit ihm das Gespräch gesucht – das aber ein Austausch von Standpunkten blieb. Denn was Guilluy Frankreichs Politikern zu sagen hat, ist für globalisierungsfreundliche Ohren eine einzige Abfolge von Ohrfeigen. 

Macron wirft er vor, Frankreich noch weiter der Globalisierung anzupassen. Ihn, der eigentlich von links kommt, erinnere das an die Devise: „Funktioniert der Kommunismus immer noch nicht, brauchen wir eben mehr davon!“ Er selbst dagegen äußert Verständnis etwa für die Forderung nach Einwanderungsstopp, denn Multikulturalismus fühle sich „mit 10.000 Euro Monatseinkommen ganz anders an als mit 1.000, wenn man um Wohnungen, Jobs und Bildung für seine Kinder kämpfen muß“. 

Und so ist er es auch, der angesichts der aktuellen Spritpreis-Unruhen der Gelbwesten der Nation das Phänomen erklärt: Die Profiteure der Globalisierung säßen in den großen Städten, das Land dagegen sei abgehängt. Dort, weit entfernt vom nächsten Bahnhof und Arbeitsplatz, lebe man von bezahlbarem Sprit. Das ländliche Frankreich stecke somit sogar tiefer in der Krise als die berüchtigten Einwanderervorstädte, für die die Politik viel tue und die gut mit Nahverkehrsmitteln erschlossen sind. Die Schattenseiten der Globalisierung spürten also vor allem Landgemeinden ohne Industrie, mit der Folge eines massiven Stadt-Land-Gefälles beim Wohlstand und der politischen Zustimmung für linke und vor allem rechte „Populisten“. Ein Phänomen, das auch bei den Präsidentenwahlen in den USA und Österreich und beim Brexit zu beobachten war. Und schon vor der Präsidentschaftswahl 2017 machte Guilluy Schlagzeilen, als er für spätestens 2022 einen Sieg Marine Le Pens prophezeite.

Falls Frankreichs Eliten Guilluys Warnungen ignorieren, drohen dort über kurz oder lang wohl Verhältnisse, wie wir sie uns heute kaum vorstellen können.