© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/18 / 07. Dezember 2018

Pankraz,
I. Turgenjew und die ungarischen Grafen

In Ungarns Geistesleben ist ein merkwürdiger Streit entstanden. Welcher unserer beiden Literaturgrafen, so wird vielerorts anspielungsreich gefragt, ist der größere, bedeutendere – und welcher von ihnen hat sich in dem tragischen zwanzigsten Jahrhundert, in dem beide lebten, politisch schuldiger gemacht, Graf Albert Wass de Czege (1908–1998) oder Graf Peter Esterházy de Galántha (1950–2016)? Der Streit hat inzwischen auch die Politik erfaßt und zu bösen Kontroversen geführt.

Linke Literaturkritiker werfen der Regierung vor, sie würde darauf hinarbeiten, daß an den Schulen der Rang des „Ersten Klassikers“ von Esterházy auf Wass übergehe, daß also die Lehrer eher die Bücher von Wass als die von Esterházy besprächen. Dabei sei doch Graf Esterházy der viel, viel Größere gewesen! Er habe sein Leben lang selber mehr oder weniger links gestanden, sich allenfalls ein bißchen zu sehr den zu seiner Zeit regierenden stalinistischen Dogmatikern angepaßt. Wass hingegen, so heißt es in diesen Kreisen, sei nichts weiter als ein „Nazi“ gewesen, und damit sei die Sache erledigt.

Für die ungarische Leserschaft ist die Sache allerdings keineswegs erledigt. Wass’ Werke waren bis zur Wende 1989 in Budapest offiziell verboten, konnten nicht frei und risikolos erworben werden. Der Zugriff zu ihnen ab den neunziger Jahren war gewaltig, und so ist es bis heute auch geblieben. Man freut sich in weiten Kreisen gemeinsam darüber, daß man in Wass einen „richtigen ungarischen Klassiker“ geschenkt bekommen habe, und in die Freude mischt sich Stolz. Von einem „ungarischen Turgenjew“ ist hier und da die Rede. Und Esterházy seinerseits geriet zur selben Zeit wegen grober Plagiatsvorwürfe in höchst negatives Gerede.


Er war ja nicht zuletzt wegen seines Familienromans „Harmonia Caelestis“ berühmt geworden, in dem er äußerst farbenreich schilderte, wie sich eine historische, uralte Adelsfamilie in die „neue Zeit“ hineinfindet und wo vor allem Esterházys Vater mit einer Gloriole aus Vernunft und Fortschrittlichkeit umgeben wird. Nach der Wende erfuhr der Autor nun, daß der Vater jahrzehntelang aufs engste mit dem kommunistischen ungarischen Geheimdienst zusammengearbeitet hatte – und reagierte darauf höchst zwiespältig, jedenfalls nach Meinung seines großen Lesepublikums. 

„Harmonia Caelestis“ wurde nämlich keineswegs umgeschrieben, geschweige denn vom Autor ganz aus dem Verkehr gezogen. Esterházy distanzierte sich nicht von dem Werk, sondern ließ ihm alsbald ein „gleichrangiges“ zweites Opus folgen, unter dem Titel „Verbesserte Ausgabe“. Das wurde ihm allerseits übelgenommen, bis nach Deutschland hinein. Der Mainzer Literaturkritiker Sigfrid Gauch nahm den Fall zum Anlaß, Esterházys Schaffensmethoden überhaupt einmal näher zu untersuchen und riskierte dabei schärfste Verdammungen. Esterházy, so konstatierte er rundweg, sei ein Meister des unverfrorenen Plagiats!

Der progressive Graf mit dem ellenlangen Stammbaum habe in viele seiner Texte ungeniert, ohne Gänsefüßchen und Quellenangabe, Passagen aus Werken anderer Autoren eingefügt und seine Manipulationen erst viel später in einem extra publizierten „Marginalienband“ pauschal  zugegeben und zu rechtfertigen versucht. „Collagerechnik“ nannte er dort sein Plagiieren – das sei geradezu unverfroren. Nie und nimmer dürfe ein Autor, ohne um Erlaubnis zu fragen, die Werke fremder Autoren einfach „collagieren“.

Wie sieht nun das „Schuldkonto“ des anderen Literaturgrafen Albert Wass dagegen aus? Im kommunistischen Rumänien wurde er nach dem Krieg zum Tode verurteilt, weil im Jahre 1944 auf einem seiner Rittergüter im mittlerweile rumänisch gewordenen Siebenbürgen eine Gruppe gefangener rumänischer Widerstandskämpfer, darunter auch Juden, erschossen worden sei. Wass, der sich bereits im amerikanischen Exil befand, versicherte damals glaubhaft, daß er zur fraglichen Zeit gar nicht auf dem Gut anwesend gewesen sei und nichts mit der Sache zu tun hatte. Die USA verweigerten die Auslieferung.


Viel mehr als dieses biographische Detail beschäftigt Wass’ Kritiker freilich der Blick auf seine Werke. Sie sind, wie es bei ihnen heißt (und sie meinen es abfällig), „völkisch“, das heißt, sie setzen wie selbstverständlich die reale Existenz eines Volkes voraus, auf das sich der Dichter tief einlassen, dessen spezifische Eigenheiten und Naturverbundenheiten er mit liebender Genauigkeit und Sprachwitz erfassen muß, was letztlich nur dann gelingen kann, wenn er, der Dichter, selber dazugehört, kritische Anmerkungen eingeschlossen.

Pankraz seinerseits findet das Moment des Völkischen in realistischer Literatur natürlich nicht anstößig; das Wort stammt von Goethe, ist allerdings wegen politischen Mißbrauchs heute so belastet, daß man es vielleicht durch Wendungen wie etwa  „volksnah“ ersetzen sollte. Die volksnahe Literatur enstand in Europa im 19. Jahrhundert durch das Erscheinen von Iwan Turgenjew (1818–1883), einem reichen russischen Aristokraten und Grundbesitzer, dessen entschieden realistische und wunderbar sprachkräftige Literaturwerke sein Leben lang um Volk und Natur kreisten.

Sowohl Albert Wass als übrigens auch Peter Esterházy stehen ganz im Zeichen von Iwan Turgenjew, was der Originalität ihres Schaffens nicht den geringsten Abbruch tut, im Gegenteil. Turgenjews gleichsam paradigmatisch volksnahen „Aufzeichnungen eines Jägers“ von 1852 tritt in Ungarn Wass’ Erzählung „Schwert und Sense“ ebenbürtig an die Seite, und Turgenjews gewaltiger Familienroman „Väter und Söhne“ findet seine ungarischen Entsprechungen sowohl in Wass’ Generationendrama „Gebt mir meine  Berge wieder!“ als auch in Esterházys  „Harmonia Caelestis“. 

Albert Wass und Peter Esterházy sollten nicht gegeneinander ausgespielt, sondern im Blick auf Turgenjew zusammengedacht werden. Beiden war es nicht gegeben, den Schild ihrer Familien voll am Strahlen zu halten, das zwanzigste Jahrhundert zwang sie dazu, eine Collage daraus zu formen.