© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/18 / 07. Dezember 2018

Dorn im Auge
Christian Dorn

Wahrheit ist die Art von Irrtum, ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen nicht leben könnte.“ Das Wort Nietzsches erklärt wohl die eigene Täuschung – hatte ich doch an dieser Stelle ein falsches Brecht-Zitat in der Schul-Aula in Erinnerung. Tatsächlich stammte es aus dem Drama „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ und lautete: „Sorgt doch, daß ihr die Welt verlassend / Nicht nur gut wart, sondern verlaßt / Eine gute Welt.“ Rückblickend erscheint das Zitat fast anschlußfähig an die Flakhelfer-Generation mit Notabitur. Dabei erscheint die „Welt“ als Dorf – so in Walsrode, wo das Wissensforum tagt (Mitschnitt im Internet: „Wissensmanufaktur“). Auf dem Weg zur Veranstaltung klagt der Taxifahrer über die grüne Verkehrspolitik, die vor Jahrzehnten sämtliche Parkflächen am Straßenrand beseitigt hatte. Damit sei die einstmals „blühendste Stadt zwischen Hannover und Bremen“ zu einem Dorf hochgeklappter Bürgersteige mutiert. Dutzende Geschäfte hätten dichtgemacht, mancher Insolvenz angemeldet. Wenige Minuten später warnt der Medienphilosoph und Kongreßredner Norbert Bolz davor, den Kapitalismus als das Wirken konspirativer Kräfte zu deuten. Vielmehr litten wir unter der Susan-Sontags-Predigt von der „weißen Rasse“ als dem „Krebsgeschwür der Menschheitsgeschichte“ – nun, das ließ sich der Krebs nicht zweimal sagen. Indes sieht Bolz die aktuelle Situation nicht hoffnungslos, stehe doch aus medizinischer Sicht eine „Krise“ für den Beginn der Heilung. Die aggressiven Reaktionen von links seien da einfach zu erklären: Ihnen fehle „jedes Argument“. Die Linke sei „komplett ideenlos, und zwar seit dem Zusammenbruch des Ostblocks.“


Veranstalter Andreas Popp erklärt derweil, alle 193 Staaten hätten Dreck vor der Tür, „aber alle kehren vor der Tür Deutschlands“. Ich denke: Tatsächlich ist das Bild in Berlin ein etwas anderes – der massige Schwarzafrikaner vom Reinigungspersonal am U-Bahnhof Jungfernheide schiebt mit dem Besen den Dreck hinter die Ecke, der Araber vor dem Falafel-Imbiß auf der gegenüberliegenden Straßenseite fegt vor Ladenöffnung allen Unrat einfach nach links und rechts vor die anderen Geschäfte, ebenso der Osteuropäer vor dem Café der Sowjetzone. Nebenan im Café des Westsektors hat derweil am Nachbartisch eine blasse, wächserne Mumie Platz genommen – erst später erkenne ich sie als Ariane Sommer. So sieht der Winter aus! Gegenüber sitzt Obamas ältere Halbschwester. „Change“ bleibt das Gebot der Stunde.