© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/18 / 14. Dezember 2018

Voulez-vous revoltieren avec moi?
Weder rinks noch lechts: Frankreichs „Gelbe Westen“ werden in Deutschand unterschiedlich interpretiert
Paul Leonhard

Gibt es kulturelle Unterschiede zwischen Franzosen und Deutschen? In der Streitkultur auf jeden Fall. Während die Anhänger der Dresdner Pegida-Demonstration allmonatlich brav auf ihre polizeilich genehmigte Kundgebung schlendern und sogar allerhand Verleumdungen hinnehmen, während die Getreuen von Sahra Wagenknecht mühselig die neue landesweite Basisbewegung „Aufstehen“ organisieren, demonstrieren die Franzosen, was sie unter Protesten verstehen: eine Revolte, die leicht in eine Revolution umschlagen kann.

Während Frankreichs Präsident vor der Macht der Straße zittert, vergeblich nach Ansprechpartnern sucht und mit einem Zugeständnis nach dem anderen zumindest versucht, die Demonstrationen einzudämmen, schauen die etablierten deutschen Parteien verdutzt nach Paris. Die deutsche Linke und Rechte sind dagegen hellwach. 

Als erste hatte Sahra Wagenknecht, Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag, die Gunst der Stunde erkannt. Es wäre gut, wenn sich die Menschen auch in Deutschland stärker gegen eine Politik wehren würden, die in erster Linie die Interessen großer Unternehmer und der Finanzwirtschaft bedient und nicht die normalen Bürger, sagte sie in einem Interview mit der Welt am Sonntag. Es gebe auch in Deutschland genug Gründe, empört zu sein. Wagenknecht bezeichnete es als falsch, „die Gelben Westen auf die gewaltsamen Ausschreitungen zu reduzieren“. Ihren neuen Newsletter überschrieb sie mit dem Slogan „Von den Gelbwesten lernen statt Merkel 2.0“.

Der Ansicht der Fraktionsvize, daß die Forderungen der Gelb-Westen-Bewegung nach gerechteren Steuern oder höheren Löhnen und Renten absolut berechtigt seien und von der Mehrheit der Franzosen unterstützt werden, schloß sich am Wochenende auch der Parteivorstand der Linken an. Nach interner Diskussion solidarisierten sich die führenden deutschen Genossen mit der französischen Protestbewegung, einstimmig und ohne Vorbehalte: „Wir sehen in der Breite des sozialen Widerstands auch eine Ermutigung für Deutschland.“ Die Proteste gegen „den neoliberalen und autoritären Kurs des französischen Präsidenten Macron“ seien berechtigt. Auch die Solidarisierungen von Gewerkschaften, Schülern und Studenten mit den sozialen Protesten wurden begrüßt.

Parteichef Bernd Riexinger, der vergangene Woche das „Potential Ultrarechter“ in den Reihen der Gelbwesten noch für „besorgniserregend“ hielt und sich mehr für mögliche Bündnisse deutscher Rechtsradikaler mit der französischen „Gilets Jaunes“-Bewegung beschäftigte, schwenkte inzwischen um. Seine Lesart lautet nun, die Solidarität der deutschen Linken sei notwendig, um gegen die „Unterwanderungsversuche des Front National“ Zeichen zu setzen. Dieser Interpretation schloß sich auch seine Co-Vorsitzende Katja Kipping an: Es sei gut, daß „fortschrittliche Kräfte teilnehmen und die Versuche der Vereinnahmung durch das Rassemblement National verhindern.“ Schief liegen dürfte aber Riexinger mit seiner gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland geäußerten Zuversicht, daß „eine solche Verbrüderung linker und rechter Gesinnung“ wie sie gegenwärtig in Frankreich zu erleben ist, in Deutschland nicht denkbar sei. Offenbar hat man im Parteivorstand der Linken die jüngsten Wählerwanderungen schon wieder verdrängt.

„So wenig Haß und so wenig Gewalt“

Die Revolte in Frankreich hält beispielsweise der Theaterregisseur Thomas Ostermeier, immerhin Commandeur des Arts et des Lettres und bis 2018 Präsident des Deutsch-Französischen Kulturrates, für nachvollziehbar: Er wundere sich, warum Deutsche, die seit 20 Jahren keine realen Lohnsteigerungen erlebt haben, das mit sich machen lassen, warum es in Deutschland „noch so wenig ungeleiteten Haß oder ungeleitete Gewalt gibt“, sagte er im Gespräch mit Deutschlandradio Kultur: „Wir als Linke haben uns selber zuzuschreiben, wenn wir dann erschrocken sind über die rassistischen Töne in diesen Bewegungen“ und die „in Teilen sehr rechten Ideologien, die dann auf einmal da aufpoppen“. Die deutsche Linke habe sich als eine „Kulturelite oder auch eine politische Elite nicht mehr für die Unterprivilegierten“ interessiert und es versäumt, deren Sprachrohr zu sein. Kein Wunder also, daß der Berliner Kultursenator Klaus Lederer (Linkspartei) von den Solidaritätsbekundungen seines Parteivorstandes in Richtung Gelbwesten „gar nichts“ hält.

Wagenknecht jedoch, die bisher 167.000 Deutsche für ihre „Aufstehen“-Bewegung gewinnen konnte, würde wohl am liebsten das „sehr vernünftigte Programm“ mit den Forderungen des französischen Volkes gleich zur Abstimmung in den Deutschen Bundestag einbringen: höherer Mindestlohn, Rente ab 60, kleinere Schulklassen, gerechtere Steuern, mehr Sozialwohnungen, mehr direkte Demokratie. Allerdings scheuen die Linken hier die Zustimmung von einem ihrer größten politischen Gegner.

Auch die AfD ist von den Protesten in Frankreich begeistert. „Wir können von den Gelbwesten lernen“, postete AfD-Bundestagsfraktionschefin Alice Weidel auf Facebook: „Gegen bürgerfeindliche Politik.“ Inzwischen ringen beide Parteien um die Deutungshoheit über eine Bewegung, die sich zur Zeit, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung zutreffend beschreibt, „noch keinem politischen Lager, keiner Gewerkschaft oder Partei zuordnen läßt“.