© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/18 / 14. Dezember 2018

Das Wahre immer wiederholen
Glaube und Vernunft: Nachruf auf den Philosophen Robert Spaemann : Der Philosoph Robert Spaemann ist im Alter von 91 Jahren verstorben
Jürgen Liminski

Von der Natur können wir uns nicht emanzipieren“ – dieser ebenso wahre wie überraschende Satz von Robert Spaemann kennzeichnet das Denken und Sinnen des Philosophen. Die Natur als Chiffre der Wirklichkeit – zeitlebens hat es den konsequenten Katholiken umgetrieben, der Natur und damit ihrem Schöpfer die Ehre zu geben. Er kann in diesem Sinn als Antipode von Jean-Paul Sartre gelten, der apodiktisch gesagt hatte: „La nature de l’homme n’existe pas“ – die Natur des Menschen gibt es nicht“.

Das Sein war dem weit über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannten Philosophen nicht nur Denksujet, es war ihm ein Herzensanliegen. Robert Spaemann hat in unzähligen Aufsätzen, Interviews und auch in einigen Büchern explizit dieses Sein, diese Wirklichkeit in Gestalt der Natur, ja die Natur als Schöpfung verteidigt und zwar mit den Mitteln der Vernunft. Davon zeugen schon Buchtitel wie „Natürliche Ziele“ (2005) und  „Das Natürliche und Vernünftige. Aufsätze zur Anthropologie“ (1987) oder sein unermüdlicher Einsatz gegen die ethischen Übergriffe des Menschen bei Abtreibung und Euthanasie. 

Es war in diesem Sinn auch nur konsequent, daß der Gelehrte sich gegen Tierversuche aussprach. Er bezeichnete Tierversuche als „bestialische Quälereien“ und den Tierschutz als „Testfall für unsere Menschenwürde“, Auch wird niemanden verwundern, daß er auch gegen die Atomenergie zu Felde zog, etwa in dem Buch „Nach uns die Kernschmelze. Hybris im atomaren Zeitalter“ (2011). Wegen seines Engagements für die Bewahrung der Schöpfung wurde Spaemann gelegentlich auch als „Ökophilosoph“ bezeichnet, und in der Bundestagsfraktion der Grünen stellte er manches Argument zur Stammzellenforschung in den stillen Raum. 

Er hat mit solchen Gedanken sicher manchen Grünen begeistert, aber auch ins Grübeln gebracht. Denn nichts lag ihm ferner als der ideologiesatte Mainstream, das Eintauchen in Mehrheitsströme, in jene negative Toleranz, in der man nicht mehr seine eigene Identität leben darf, wie Benedikt XVI. schrieb, und in der „man stattdessen eine abstrakte Negativreligion zu einem tyrannischen Maßstab macht, dem jeder folgen muß“. Ja, es machte ihm geradezu Freude, solche Ideologen zu demaskieren, ganz im Sinne von Goethe, der seinem Freund Eckermann schon vor 190 Jahren diesen Rat gab: „Und denn, man muß das Wahre immer wiederholen, weil auch der Irrtum um uns her immer wieder gepredigt wird und zwar nicht von einzelnen, sondern von der Masse. In Zeitungen und Enzyklopedien, auf Schulen und Universitäten ist der Irrtum obenauf, und es ist ihm wohl und behaglich im Gefühl der Majorität, die auf seiner Seite ist.“

Wahrheit als Erfüllung der Wirklichkeit

Spaemann ging es um Wahrheit, nicht um Mehrheit, und zwar Wahrheit als Enthüllung der Wirklichkeit. Insofern waren für ihn christlicher Glaube und Vernunft zwei Seiten der gleichen Medaille. Hier war er denkverwandt mit Benedikt XVI., den man gut und gern als geistigen Bruder Spaemanns bezeichnen könnte, und der den scharfsinnigen Professor 2006 einlud, in Castel Gandolfo über das Verhältnis von Naturwissenschaft, Philosophie und Glauben zu referieren. Beide standen in einem intensiven Gedankenaustausch. Auch manche deutschen Bischöfe ließen sich von Spaemann beraten, die Mehrheit der Bischofskonferenz freilich scheute seinen Scharfsinn, man hätte ja das Handeln danach und nicht nach „dem Lärm der Menge“, wie es in der Pilatus-Szene heißt, ausrichten müssen.

Woher kam diese Konsequenz? Man tritt dem Apologeten der Natur und des Naturrechts sicher nicht zu nahe, wenn man zur Antwort in seine Kindheit ausgreift. 1927 in Berlin geboren, wuchs er  in einem Haushalt auf, in dem Vater und Mutter diese Konsequenz vorlebten. Vater Heinrich und Mutter Ruth waren zum Katholizismus konvertiert, und als die Mutter mit 32 Jahren starb – da war Sohn Robert gerade neun Jahre alt – studierte der Vater Theologie und wurde Priester. Fortan war Robert „der Sohn des Kaplans“ und trank aus dem Becher der Theologie und der aristotelischen Naturphilosophie. Von seinem Vater lernte er, daß Golgotha wesenhaft zum Christentum gehört. Denn ein Gott, der Liebe ist, schreibt Heinrich Spaemann, „konnte diesen Tod nur erleiden, um auch den zu retten, der ihm diesen Tod zufügt“. Solche Gedanken stärkten und prägten den Sohn fürs Leben. 

Robert Spaemann hat auch seine Mutter nie vergessen. In einem seiner bekanntesten Werke, „Moralische Grundbegriffe“, setzte er ihr auf seine Art ein Denkmal. Ziemlich am Anfang schreibt er: „Nur an einer Wirklichkeit, die uns Widerstand leistet, können wir unsere Kräfte entwickeln. (…) Der Erzieher hat die Aufgabe, das Kind an die eigenständige und widerständige Wirklichkeit heranzuführen. Die Mutter ist im allgemeinen die erste eigenständige Wirklichkeit, der das Kind begegnet. Und so ist dafür gesorgt, daß die Wirklichkeit zunächst als hilfreich und freundlich erfahren wird. Die Stiftung dieser Grunderfahrung – die Psychologie spricht vom Urvertrauen – ist das Wichtigste, was Erziehung überhaupt zu leisten hat. Denn wer auf eine Erinnerung an eine heile Welt zurückgreifen kann, wird leichter mit der unheilen fertig“.

Überhaupt die Familie. Sie war für Spaemann ein Raum der Freiheit, den er fachübergreifend verteidigte. Die Unart der Politik, immer stärker in die Familie hineinzugreifen, stellte er mit dem Subsidiaritätsprinzip bloß. „Die subsidiäre Verantwortung des Staates bezieht sich (…) nicht darauf, das Wohl und die Erziehung des Kindes zu optimieren, das heißt sie den Eltern immer dann aus der Hand zu nehmen, wenn die Erziehung nach Auffassung der Behörden bei anderen Personen besser wäre als bei den Eltern. Fast allen Eltern müßten dann die Kinder weggenommen werden, denn wer erzieht schon seine Kinder so, daß jemand anderes sie nicht vielleicht noch besser erzöge? Aufgabe des Staates kann es nur sein, die Unterschreitung bestimmter Minimalforderungen, die sich aus der Menschenwürde des Kindes ergeben, zu verhindern und tätig zu werden, wenn diese gefährdet sind“.

Mit Spaemann, der am Montag 91jährig mit den Sakramenten der katholischen Kirche versehen friedlich entschlief, verliert Deutschland einen herausragenden Denker des Humanum. Im Zeitalter des homo oeconomicus, der auch die Politik beherrscht, braucht es aber solche Geister mehr denn je.