© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/18 / 14. Dezember 2018

Abitur heißt nicht Hochschulreife
Rabenschwarze Betrachtungen zu Bildung, Schule und Universität in der Ära Merkel
Wolfgang Müller

Hundert Fehler, im Ausdruck, in der Rechtschreibung und Zeichensetzung, auf nur zehn Seiten einer Seminararbeit. Das ist eine wahrhaft erschreckende Zahl. Aber ein solches Versagen ist keine Seltenheit. Für Volker Ladenthin ist es eher die Spitze des Eisbergs. Seit 2011 läßt der Professor für Historische und Systematische Erziehungswissenschaft an der Universität Bonn in den Anfangssemestern Klausuren schreiben. Rund eintausend hat er seitdem ausgewertet. Die Bilanz ist derart niederschmetternd, daß der vor der Emeritierung stehende Gelehrte, ein ausgewiesener Kritiker der Bologna-Reform und des teuren „Pisa-Zirkus“, der lange der Pädagogik-Sektion der katholischen Görres-Gesellschaft vorstand, seine „Beobachtungen zur heutigen Studierendengeneration“ als Weckruf unter dem Titel „Da läuft etwas ganz schief“ im Organ des Deutschen Hochschulverbandes publizierte (Forschung & Lehre, 8/2018).

Studenten sind kognitiv kaum zu Abstraktion fähig

Auf den Punkt gebracht, lautet Ladenthins Fazit: „Das Abitur qualifiziert nicht mehr zum Studium.“ Der Übergang von der Schule zur Universität sei daher „hochgradig gestört“. Also erfülle das Gymnasium nicht länger die ihm gestellte Aufgabe, Schüler bis zur „Studierfähigkeit“ zu bringen, sie mit „Hochschulreife“ zu entlassen. Das Abitur sei offenbar „sinnlos“ geworden. Stattdessen habe sich – „ein unglaublicher Vorgang“ – an der Universität mit den „Vorbereitungskursen“ eine neue Schulart etabliert, die das nachholen oder oft auch erstmals thematisieren soll, was bis zum Abitur eigentlich hätte „sitzen“ müssen. 

Deshalb fließen jetzt riesige Finanzmittel in diese „universitäre Nachhilfe“. In der gegenwärtig so beliebten Form eines „Paktes“, in diesem Fall zur verbesserten Qualität der Hochschullehre, „verpflichtet“ sich der Bund, den Ländern bis 2020 stattliche zwei Milliarden Euro zu überweisen, um zunächst an 40 Universitäten, 43 Fachhochschulen sowie 19 Kunst- und Musikhochschulen  „Brückenkurse“ einzurichten, in denen schulisch Versäumtes gepaukt wird. Für Ladenthin eine der vielen Grotesken zu Lasten des Steuerzahlers, an denen die Ära des „Merkelismus“ (Ferdinand Knauß) so überaus reich ist. Denn was die Kultusminister an verkürzter Schulzeit einsparen, geben die Wissenschaftsminister für Brückenkurse wieder aus. 

Dieser Aberwitz entfaltet sich jedoch erst im Kontrast mit offiziellen Jubelstatistiken zur üppigsten Blüte. Denen zufolge bewegt sich der bundesdeutsche Erziehungsbetrieb nämlich auf Weltniveau. In Hessen etwa ging die Verjüngung der durch die Schnellpresse des G8-Abiturs gejagten „Hochschulreifen“ einher mit der rasanten Verbesserung des Notendurchschnitts von 2,46 (2009) auf 2,42 (2013), und die Rate der 1,0-Abiture stieg von 1,2 auf 1,6 Prozent pro Jahrgang. Im Bildungswunderland Nordrhein-Westfalen verdoppelten sich zwischen 2007 und 2011 die Einser-Zeugnisse sogar! Rätselhaft ist allerdings, warum zwischen Zeugnisempfang und Studienbeginn, also binnen Monaten, Gelerntes rückstandsfrei zu verdampfen scheint. Anders sei nämlich nicht zu erklären, warum viele Brückenkurse explizit zur „Auffrischung“ des Abiturwissens einladen und überdies „Lerntechnik-Kurse“ anbieten. Haben die Adressaten keine Lerntechniken erworben? fragt Ladenthin ungläubig. „Wie konnten sie dann in der Schule lernen? Ohne Lerntechniken? Was war das dann für ein Lernen an der Schule?“

Für den Erziehungswissenschaftler  erschöpfen sich die schlimmen Konsequenzen eines derart defizitären Schulunterrichts nicht darin, daß „Kommaregeln so gut wie gar nicht systematisch angewandt“ würden, bei Groß- und Kleinschreibung, auch „dank“ der famosen Rechtschreibreform, die Unsicherheit epidemisch sei, oder achtzig Prozent der Klausuren „ein oft nur schwer lesbares Schriftbild“ zeigten – „mit Schriftzeichen, die keinem einheitlichen Alphabet mehr zugeordnet werden können“. Darüberhinaus beschädigen negative Auswirkungen des an ökonomischen Standards angepaßten, auf „Kompetenzen“ statt Bildung ausgerichteten Unterrichts mittlerweile die geistigen Grundlagen vernünftiger Praxis. 

So schockiert Ladenthin mit dem Befund, wonach Studierende „mehrheitlich kognitiv kaum zu Abstraktion fähig sind“. Um ihnen komplexe Texte wie die Wilhelm von Humboldts (1767–1835), pikanterweise ein Urheber des modernen preußisch-deutschen Bildungssystems, zu erschließen, bedürfe es „erheblicher Einhilfen“. Auch bereite eigensprachliche Reproduktion Schwierigkeiten. Texte könnten in der Regel nicht „komplex, systematisch vollständig und in eigenen Worten“ zusammengefaßt werden. Nicht einmal der Gedankengang werde strukturiert, in Haupt- und Nebenargumente getrennt, so daß der Interpret keine Bedeutungshierarchie freilege. Deshalb markiere er mit dem Marker kurzerhand alles – einfarbig.

Kritik wird als narzißtische Kränkung empfunden

Wie Sprache und Denken korrelieren, „schlechter Stil faules Denken verrät“ (Friedrich Nietzsche), ungenügende Grammatikkenntnisse Barrieren intellektueller Realitätsverarbeitung darstellen, demonstriert Ladenthin am gestörten Verhältnis zum Konjunktiv I, an der Verwechslung konditionaler Aussagen mit kausalen Erklärungen, an der Unfähigkeit, Theorien als Theorien zu referieren. Aus „A stellt die These auf, das Bildungssystem ist ungerecht“ werde etwa im Referat eine unmittelbar realitätsbezogene Aussage: „Das Bildungssystem ist ungerecht.“

Diese nahezu autistische Weigerung, mit der Wirklichkeit Kontakt aufzunehmen, erklärt Ladenthin mit Jean Piaget: Es handle sich um „nicht abgelegte kindliche Egozentrik“. Zu deren Kultivierung bot die Schönwetter-Demokratie der Bundesrepublik mit ihrem Mangel an authentischer Lebenserfahrung ideale Voraussetzungen. Etwas anderes als die eigene Wirklichkeit, das Hier und Jetzt, ohne historisches Bewußtsein, ist ihren Geschöpfen nicht vorstellbar. 

Daher gehöre „geringe Frustrationstoleranz“, das aus US-Seminaren importierte „Schneeflöckchen“-Syndrom, inzwischen zum seelischen Normalhaushalt auch deutscher Studenten. Lernen und Kritik werde als narzißtische Kränkung empfunden. Nach dreißig Dozenten-Jahren, so berichtete der konsternierte Ladenthin, habe er erstmals erfahren müssen, daß Studierende nach der Kritik an ihrem Gruppenreferat in Tränen ausbrachen. Dazu passe die zunehmende Unselbständigkeit dieser jungen Erwachsenen, die beim Lernen und in Prüfungen davon ausgingen, andere würden alles Wichtige für sie erledigen. 

Eigenes Denken gerate folglich aus der Mode. Problembewußtsein? Weitgehend Fehlanzeige. Sinn für die Komplexität des Daseins und den nicht relativierbaren Sinn lebensweltlicher Entscheidungen? „Fehlen nahezu völlig.“ Desto rigoroser würden eigene Erfahrungen verabsolutiert. Wissenschaftliche Aussagen seien mithin „Ansichtssage“. Es gebe „eh keine Wahrheit“. Universitäres Wissen sei allenfalls prüfungsrelevant, dürfe danach aber ohne Schaden vergessen werden.

Ladenthin schweigt sich leider über die gesellschaftliche Dimension seiner bedrückenden Befunde zu Bildung, Schule, Universität aus. Die tut sich aber fast von selbst für jeden kritischen Zeitgenossen auf, der seit 2005 die – während der Kanzlerschaft Helmut Kohls anhebende – wirklichkeitsferne, von kindlicher Egozentrik geprägte, das Gemeinwesen nachhaltig zerstörende „unpolitische Politik“ einer Frau erleiden und im materiellen wie immateriellen Sinn teuer bezahlen mußte, die „keinen klaren politischen Gedanken fassen kann“ und die mangels historischen Bewußtseins nicht um den Wert und die Verletzlichkeit gewachsener Ordnungen weiß, wie der Wirtschaftsjournalist Ferdinand Knauß klagt („Merkel am Ende“, München 2018).