© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/18 / 14. Dezember 2018

Kommunismus à la Konfuzius
Seit Deng Xiaopings Reformkurs vom Dezember 1978 entwickelt Peking einen Marxismus chinesischer Art
Peter Kuntze

Im Alter von 93 Jahren machte sich Helmut Schmidt 2012 noch einmal auf die Reise, um Abschied von seinem bewunderten China zu nehmen. Bei einem dreitägigen Zwischenstopp in Singapur traf er Lee Kuan Yew, den 89jährigen Freund, der einst den Stadtstaat gegründet und jahrzehntelang regiert hatte. Auf Schmidts Frage, ob es sich bei China wirklich noch um eine kommunistische Gesellschaft handle, antwortete Lee, ein überzeugter Konfuzianer: „Nein. Es ist eine chinesische Gesellschaft. Kommunistisch ist sie nur dem Namen nach.“ Diese Einschätzung wurde schon damals von vielen Beobachtern geteilt.

Als Mao Zedong, 1949 einer der Gründerväter der Volksrepublik, im September 1976 starb, hinterließ er China nicht nur als ein riesiges Armenhaus, sondern auf dem von ihm forcierten Weg zum Kommunismus hatte er auch Millionen von Toten zu verantworten. Während des „Großen Sprungs nach vorn“ verhungerten zwischen 1958 und 1962 fast vierzig Millionen Menschen; Hunderttausende fielen der „Großen Proletarischen Kulturrevolution“ (1966 bis 1976) zum Opfer. Beide Katastrophen warfen das Land wirtschaftlich und kulturell um Jahrzehnte zurück.

Deng Xiaoping imponierte das System in Singapur

Wie hatte es dazu kommen können? Xi Jinping, als Staats- und Parteichef heute genauso mächtig wie seinerzeit Mao, hat drei Kardinalfehler ausgemacht. Auf einem Seminar für Führungskader konstatierte er im Januar 2016, man habe nach 1949 den Weg des sozialistischen Aufbaus im einzigen Bündnis mit der Sowjetunion erkundet, um sich schließlich fast vollständig von der internationalen Gemeinschaft zu trennen: „Es kam zum Fehler des linksextremistischen Leitgedankens und zur katastrophalen zehnjährigen Kulturrevolution, zumal wir die Gesetzmäßigkeiten des sozialistischen Aufbaus nicht tief genug erkannten.“ Mit anderen Worten: Abschottung, Kopie der sowjetischen Planwirtschaft sowie Maos Politik des permanenten Klassenkampfes hatten China ruiniert.

Um das Land aus der Sackgasse zu führen, ergriff nach Maos Tod Deng Xiaoping die Initiative. Als erstes ließ er die Volkskommunen auflösen und schickte Delegationen ins westliche Ausland, um vom Klassenfeind zu lernen. Im Gespräch mit Helmut Schmidt erinnerte sich Lee Kuan Yew: „Als Deng damals nach Singapur kam, fand er eine kleine Insel ohne Ressourcen vor, die jedoch prosperierte und über ein breites Angebot an Waren und Gütern verfügte. Die Menschen hatten Geld in der Tasche und konnten sich etwas kaufen. Er beobachtete, stellte präzise Fragen und kam zu dem Schluß, daß es unsere Offenheit für Investitionen war, die uns Technologie, Logistik und volkswirtschaftliches Know-how ins Land brachten.“ Beim Abendessen, so Lee, habe er zu Deng gesagt: „Sie können uns leicht übertreffen. Wir sind die Nachfahren von Bauern und Landarbeitern aus Südchina, Sie in China haben Mandarine, Gelehrte, Wissenschaftler, Forscher.“ Zurück in der Volksrepublik, habe Deng die sehr erfolgreichen Sonderwirtschaftszonen eingerichtet – nach dem Vorbild Singapurs.

Die Erkenntnisse, die Deng und die von ihm entsandten Delegationen im Ausland gewannen, waren grundstürzend: Die moderne kapitalistische Gesellschaft, so ihre Botschaft daheim, sei das Gegenteil von dem, was in China und im gesamten Ostblock gelehrt werde. „Unsere bisherige Vorstellung“, schrieb ein ranghoher Mitarbeiter der amtlichen Nachrichtenagentur Xinhua, „hat so ausgesehen: Der Kapitalismus ist sehr grausam, behindert die Entwicklung der Produktivkräfte, läßt das Proletariat verarmen und ist seinem Ende nahe.“ 

In Wahrheit sei der Markt nicht anarchisch; vielmehr gelinge es den bürgerlichen Regierungen immer besser, durch staatliche Eingriffe ökonomische Krisen zu meistern. Durch Kartellgesetzgebung bleibe das Konkurrenzprinzip in Kraft und fördere mittlere und kleine Unternehmen. Auch dies widerspreche der marxistischen Annahme, der Kapitalismus sei eine monopolistische Wirtschaftsordnung. Tatsächlich hätten die Regierungen die Klassenwidersprüche entschärft und einen Einkommensausgleich herbeigeführt. Prinzipiell könne jeder Aktien erwerben; der Mittelstand spiele überall eine wachsende Rolle. Das Resümee des Journalisten: Es gelte, vom Kapitalismus zu lernen und seine positiven Elemente zu übernehmen.

Ein Professor an der Zentralen Parteischule in Peking kam damals zu dem Ergebnis, der Kapitalismus befinde sich jetzt in einer neuen Entwicklungsetappe – in der Phase des „Sozialkapitalismus“. In einem natürlichen Geschichtsprozeß, nicht durch Gewaltanwendung, sondern friedlich, werde dieser Sozialkapitalismus eines Tages in den Sozialismus übergehen. „Wenn man ehrlich ist“, so der Akademiker, „muß man zugestehen, daß diese Stufe des Kapitalismus neue Errungenschaften der Zivilisation hervorbringt und eine ‘Hochschule’ für eine vergesellschaftete Warenwirtschaft ist“ – die vordringliche Aufgabe auch aller sozialistischen Staaten.

„Klassenkampf als leitendes Prinzip“ wurde beseitigt

Ein Jahrzehnt vor dem Zusammenbruch des Ostblocks zog Deng Xiaoping die Konsequenzen aus dem Lernprozeß im Westen und der inländischen Misere. Gegen hartnäckigen Widerstand der Orthodoxen setzte er auf der dritten Plenarsitzung des XI. KP-Zentralkomitees, die vom 18. bis 22. Dezember 1978 dauerte, seine bis heute erfolgreich praktizierte Reform- und Öffnungspolitik durch. Mit dem Argument, Sozialismus bedeute nicht Armut, sondern gemeinsamen Wohlstand, und der Maxime, die Wahrheit nicht in Lehrbüchern, sondern in den Tatsachen zu suchen, konnte er die Mehrheit überzeugen. Schließlich, so die seit Jahren von dem Pragmatiker verfochtene These, sei es gleichgültig, ob eine Katze schwarz oder weiß sei – Hauptsache, sie fange Mäuse. Aus dem Parteiprogramm ließ Deng die Losung vom „Klassenkampf als leitendes Prinzip“ entfernen und statt dessen die Einführung einer sozialistischen Marktwirtschaft festschreiben, die heute als „Sozialismus chinesischer Prägung“ firmiert.

Das Ergebnis war phänomenal. In rasantem Tempo entwickelte sich das einstige Armenhaus zu einem modernen Industriestaat, auch wenn es in mancher Hinsicht noch ein Entwicklungsland ist. Von 1978 bis 2015 stieg das Bruttoinlandsprodukt um das 48fache; dank Globalisierung und Digitalisierung ist die Volksrepublik heute die zweitgrößte Wirtschaftsmacht und verfügt mit drei Billionen Dollar über die meisten Devisenreserven. In wenigen Jahrzehnten haben 700 Millionen Chinesen den Armutsstatus verlassen; 400 Millionen erzielen ein mittleres Einkommen. In Forschung und Wissenschaft belegt Peking Spitzenpositionen. Wie revolutionär der Wandel ist, zeigt die 47teilige TV-Serie „A Splendid Life in Beijing“, die Ende 2017 in China ausgestrahlt wurde. Über eine Spanne von vierzig Jahren erzählt das Opus (auf Youtube mit englischen Untertiteln verfügbar) das bewegte Leben vierer Brüder, die in den Siebzigern geboren wurden.

Um den Herausforderungen der Gegenwart gerecht zu werden und den Sozialismus stets den chinesischen Bedingungen anzupassen, fordert Xi Jinping, der Marxismus müsse „weiter sinisiert und modernisiert“ werden. Anläßlich des 95. Jahrestages der Gründung der KP erklärte er im Juli 2016: „Marxismus bedeutet nicht die letzte Wahrheit. Breite und Tiefe der zeitlichen Veränderungen und der chinesischen Entwicklung gehen weit über die damaligen Vorstellungen der Verfasser der klassischen marxistischen Schriften hinaus.“ Unter Berufung auch auf Konfuzius stellte Xi klar, gemeinsamer Wohlstand und gesellschaftliche Harmonie seien ein Grundziel nicht nur des Marxismus, sondern seit der Antike auch ein Grundideal des chinesischen Volkes. In der Tat zieht sich das Urbild von der „Großen Gemeinschaft“ (tatung) wie eine  kommunistische Utopie durch Chinas Geschichte.






Peter Kuntze, ehemaliger Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“, ist Autor des Buches „Chinas konservative Revolution oder Die Neuordnung der Welt“ (Schnellroda, 2014).