© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/18 / 14. Dezember 2018

Psychosen im gefühlsgeleiteten Hippiestaat
„Moralische Infantilisierung“: Raymond Unger über die von transgenerationellen Traumata beeinflußte Babyboomer-Generation
Thorsten Hinz

Also sprach die Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt auf dem Parteitag der Grünen im November 2015, wenige Monate nach der Grenzöffnung: „Unser Land wird sich ändern, und zwar drastisch. Und ich freue mich drauf!“ Statt sich mit der Legitimation, Bedeutung und Folgen einer Politik auseinanderzusetzen, die nicht weniger als die ethnisch-kulturelle Umwälzung Deutschlands zur Folge hat, rechtfertigte sie sie mit dem persönlichen Lustgewinn. So ein kindlicher Narzißmus wirkt bei Vierjährigen drollig, bei einer Politikerin jenseits der Fünfziger ist er ein sicheres Indiz fehlender Reife in Geist und Charakter. Trotzdem wäre sie 2017 fast Ministerin, womöglich Außenministerin geworden, und fast alle großen Medien fanden es schade, daß sie es am Ende doch nicht wurde.

Göring-Eckardt ist, wie Raymond Unger in seinem Buch darlegt, repräsentativ für die Alterskohorte, die heute in Politik und Medien die Führung innehat. Der Autor spürt den Gründen für die „moralistische Infantilisierung“ der Generation nach, der er – 1963 geboren – gleichfalls angehört. Seine Perspektive ist die eines „liberalen, humanistischen Freidenkers und freien, bildenden Künstlers“, der seine mühsam erkämpfte Freiheit im Denken und im praktischen Leben durch die Politik- und Medieneliten aufs Spiel gesetzt sieht. Es handelt sich um die Generation der Babyboomer, die ungefähr von 1957 bis 1967 reicht, um die Kriegsenkel, die in der Literatur auch als „Nebelkinder“ bezeichnet werden, weil sie ein nebulöses, stets präsentes Schuld-gefühl in sich tragen. Einerseits fanden sie – soweit im Westen lebend – Aufstiegs-chancen und materiellen Wohlstand vor, vermißten allerdings die emotionale Sicherheit. Sie sind die Söhne und Töchter von Kriegskindern, deren frühe Jahre von Bombennächten, Vertreibung, Entbehrung geprägt und deren Väter entweder im Krieg geblieben oder aus ihm beschädigt zurückgekehrt waren. 

Unger arbeitet mit dem Instrumentarium der Psychoanalyse und Psychotherapie. Das fehlende Vorbild des Vaters wirkt neben den anderen transgenerationellen Traumata so einschneidend, weil die Väter die Brücke zur Erwachsenenwelt bilden. Zudem ist die Armee als ein Ort der Initiation, wo junge Männer sich von der Mutterbindung lösen, ausgefallen. Unger gibt damit eine Antwort auf die Frage: „Was sind das also für Männer, die eine kinderlose Frau zur ‘Mutti’ der Nation stilisierten – eine regressiv, kollektive Projektion sondergleichen?“ 

Ich-Schwäche, Schuldkomplexe, die Unfähigkeit zur Abgrenzung, das Schwanken zwischen manischer Depression und auftrumpfendem Optimismus lassen ein erwachsenes, abgeklärtes Verhältnis zur Außenwelt nicht zu und bereiten das Feld für Helfersyndrome und für die Hypermoral. Zudem verhindert die verbreitete Kinderlosigkeit die Entlastung und blockiert ein Abflauen der Konflikte in der generativen Abfolge. Die Betroffenen befinden sich in der „genetischen Sackgasse“, in der die toxischen Beimischungen der Familiengeschichte kulminieren und die „persönliche Selbstablehnung im politischen Handeln kollektiviert wird“. Es gibt heute unter den etablierten Politikern und Journalisten kaum einen, der ein positives Verhältnis zum eigenen Land hat.

Pharisäertum gepaart mit erschreckender Infantilität 

Auf diese Kollektivpsychologie traf 2015 die Flüchtlingskrise. Es schlug die Stunde der „Wiedergutmacher“, die ihr angeknackstes Selbstwertgefühl reparierten, indem sie tätige Reue für „deutsche Schuld“ leisteten und sich von „Ausländerfeinden“, von den „Abgehängten“ und hinterwäldlerischen „Ossis“ demonstrativ abhoben. Doch in Wahrheit, so Unger, achtet dieser Typus sehr genau auf die Wahrung seiner Besitzstände. Er nennt unter anderem die sogenannten Flüchtlingsbürgen, die sich anboten, die Kosten für Zuwanderer mit ungeklärtem Status zu übernehmen und dafür moralischen Mehrwert und soziale Reputation einstrichen. Wie groß war ihr Erstaunen, als das Sozialamt ihnen tatsächlich die Rechnung ins Haus schickte. Diese Gutsituierten mit hohen Bildungsabschlüssen hatten nicht gelernt, was zum Erwachsenwerden gehört: die Konsequenzen des eigenen Handelns zu tragen. Weltrettungsattitüde, Pharisäertum und Infantilität gehen bei diesen vermeintlich mündigen Bundesbürgern Hand in Hand. 

Exemplarisch ist die Niederlage von Innenminister Horst Seehofer, der nichts anderes wollte, als dem Gesetz wieder Respekt und Geltung zu verschaffen und an der Übermacht der Medien, die sich umgehend mit der Kanzlerin verbündeten, scheiterte. Auch aus der Union erhielt er wenig Unterstützung. Seehofers Degradation ist mehr als eine persönliche Schlappe. Sie markiert die endgültige Ablösung der alten weißen Männer in der deutschen Politik durch die Infantilisierten der Göring-Eckardt-Generation.

Das Buch besticht durch seine Einheit aus Abstraktion, lebendiger Anschauung und erzählerischer Kraft. Unger belegt die psychologischen Modelle und gesellschaftspolitischen Rückschlüsse durch Beispiele und Schilderungen, die oft aus eigener Erfahrung stammen. Wohnhaft in Berlin-Neukölln, hat er über die Jahre die negativen Veränderungen im Kiez mitverfolgt.

Der Autor hat sich bewußt auf die mentale Konditionierung der Deutschen durch den Krieg und die Kriegsfolgen fokussiert. Die Rahmenbedingungen nach 1945 – die beschränkte Souveränität, die Umsetzung alliierter Umerziehungskonzepte, die Teilung des Landes – werden sekundär behandelt. Das ist kein Manko, vielmehr ein Anknüpfungspunkt und eine Aufgabe für weitere Untersuchungen. 

An einigen Stellen möchte man widersprechen, etwa anläßlich der undifferenzierten Abwertung der Proteste gegen die Stationierung von Mittelstreckenraketen Anfang der 1980er Jahre. Gewiß wurde der Widerstand vorwiegend emotional vorgetragen, doch er ließ immerhin einen politischen Restinstinkt erkennen im Angesicht der Tatsache, daß im Ernstfall fremde Mächte über die physische Existenz das eigenen Landes verfügen durften. Dieser Restinstinkt, lautet die bittere Schlußfolgerung aus Ungers Buch, ist erstorben.

Raymond Unger: Die Wiedergutmacher. Das Nachkriegstrauma und die Flüchtlingsdebatte. Europa Verlag, München 2018, gebunden, 416 Seiten, 24,90 Euro