© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/18 / 14. Dezember 2018

Eine sehenswerte Konzeption für die junge Republik
Der Verfassungshistoriker Jörg-Detlef Kühne hat ein neues Standardwerk zur Entstehung der Weimarer Reichsverfassung vorgelegt
Hans Fenske

Aus einer Meuterei von Matrosen der Kaiserlichen Marine Ende Oktober 1918 erwuchs eine revolutionäre Unruhe, die schnell das ganze Deutsche Reich erfaßte. Am Abend des 7. November rief Kurt Eisner in München die Republik aus, zwei Tage danach, am frühen Nachmittag des 9. November, tat das Philipp Scheidemann auch in Berlin. 

Mit dem Ende der Monarchie war die Aufgabe gestellt, neue Verfassungen für Reich und Länder zu erarbeiten. Daß eine Revision der Reichsverfassung von 1871 ausreiche, war nur eine flüchtige Überlegung. Am 12. November kündigte ein Aufruf des Rates der Volksbeauftragten eine konstituierende Versammlung an, die von allen Männern und Frauen ab 20 Jahren gewählt werden sollte. Im Reichsamt des Innern, das nun von dem linksliberalen Staatsrechtslehrer Hugo Preuß geleitet wurde, begannen unverzüglich die Arbeiten an der künftigen Verfassung.

In mehreren Konferenzen sprachen Politiker und Fachleute aus Reich und Ländern über die Neuordnung, und die Mitte Januar 1919 gewählte und ab dem 6. Februar tagende Nationalversammlung verhandelte im Plenum und in dem von ihr eingesetzten Verfassungsausschuß eingehend darüber. 

Es war ein gehöriges Stück Arbeit zu leisten, bis die neue Reichsverfassung am 31. Juli mit beinahe Dreiviertelmehrheit verabschiedet wurde. Während dieser Beratungen wurde der von Preuß Anfang Januar vorgelegte erste Entwurf gründlich verändert. Es wurde, um nur zwei Bereiche zu nennen, die von Preuß gewollte Umgestaltung des Reiches zu einem dezentralisierten Einheitsstaat aufgegeben und ein umfangreicher Teil über die Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen eingefügt. Am 11. August 1919 trat die neue Verfassung des Reiches in Kraft.

Der Anschluß Österreichs wurde bereits konzipiert

Zur Verfassunggebung ist in den hundert Jahren seither eine sehr umfangreiche Literatur entstanden, ohne daß schon alle Aspekte des damaligen Geschehens genügend beleuchtet worden wären. Einen sehr gewichtigen Beitrag zu dieser Thematik hat jetzt nach nahezu zehnjähriger intensiver Arbeit der inzwischen im Ruhestand lebende Professor für öffentliches Recht und Verfassungsgeschichte in Hannover, Jörg-Detlef Kühne, vorgelegt. 

Im ersten Teil seines Werkes, der schon für sich den Umfang eines Buches hat, bespricht er eingehend die bisherige literarische Erschließung des Verfassungswerks und die Gründe für die damalige vielfach kritische Aufnahme, die Stufen der Verfassungsentstehung und die konkurrierende Konzeption des Rätesystems, des weiteren wichtige Fragen wie den erstrebten Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich, den Wien sehr entschieden wollte, das Verständnis von Volk und Nation und die den Parteien zugedachte Rolle. Auch zeichnet er den Wandel des Verfassungslebens nach. Aus der parlamentarischen Demokratie wurde ja nach nur zehn Jahren eine präsidiale, wie es die durch die Verfassung gegebene gewichtige Stellung des Reichspräsidenten ermöglichte. Die Eingliederung Österreichs in das Reich wurde, wie anzufügen ist, durch die von den Siegermächten Deutschland und Österreich auferlegten Friedensverträge untersagt.

Es folgt, auf den Seiten 389 bis 755, eine reich kommentierte und mit ausführlichen Einleitungen versehene Quellenedition. Kühne dokumentiert die Beratungen des Verfassungsausschusses und seines Unterausschusses zur Vorbereitung des Grundrechtskatalogs und macht damit wichtiges Quellenmaterial auf hoher Ebene neu zugänglich. Bisher waren die Verhandlungen des Verfassungsausschusses in den (auch in einem Buch zusammengefaßten) Reichstagsdrucksachen nachzulesen, und die Berichte über die Sitzungen des Unterausschusses hat Thomas Wirth 1989 im Jahrbuch der Hambach-Gesellschaft erstmals veröffentlicht. Kühnes Dokumentation der Ausschußarbeit beruht auf der prägnanten Berichterstattung durch Wolffs Telegraphisches Büro. An der Veröffentlichung zum Unterausschuß von 1989 kann er einige Korrekturen anbringen.

Im abschließenden dritten Teil seines gewichtigen Buches befaßt Kühne sich mit den Mitgliedern des Verfassungsausschusses und den Beratern aus der Exekutive während der 45 Sitzungen dieses Gremiums vom März bis zum Juli 1919. Der Ausschuß hatte 28 Mitglieder, aber die Fraktionen in der Nationalversammlung hielten es aus guten Gründen für richtig, die für das jeweils anstehende Thema sachverständigen Abgeordneten dorthin zu entsenden. Das waren insgesamt 87 Parlamentarier. Dazu kamen 110 Sachkenner aus der Exekutive. Diesen Personenkreis stellt Kühne mit Kurzbiographien von bis zu anderthalb Druckseiten Länge und mit soziologischen Untersuchungen vor. 

Wer sich gründlich mit der Entstehung der Weimarer Verfassung und ihrer Rezeption beschäftigen will, muß Kühnes groß angelegtes Werk zur Hand nehmen. Er wird aus der Benutzung reichen Ertrag ziehen.






Prof. Dr. Hans Fenske lehrte Neuere und neueste Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg im Breisgau.

Jörg-Detlef Kühne: Die Entstehung der Weimarer Reichsverfassung. Grundlagen und anfängliche Geltung. Droste Verlag, Düsseldorf 2018, gebunden, 996 Seiten, 89 Euro