© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/19 / 04. Januar 2019

„Das wäre Unsinn“
Staatsrechler: Unterschiede sind längst schon nivelliert
Christian Vollradt

Herr Dr. Vosgerau, die Linksfraktion möchte das Grundgesetz ändern lassen, damit auch jene Grundrechte, die bisher nur Deutschen garantiert sind, künftig für alle Menschen hierzulande gelten. Wäre das aus Ihrer Sicht als Staatsrechtler sinnvoll – oder eher bedenklich?

Vosgerau: Ach nee, das machen die doch nur wieder, um Sahra Wagenknecht zu ärgern! Aber im Ernst, das wäre Unsinn. 

Die Antragsteller behaupten, Menschenrechte gälten schließlich für alle, und für die Unterscheidung zwischen Deutschen und Nichtdeutschen gebe es keine sachliche Begründung. Verstößt das Grundgesetz damit also gegen das eigene Diskriminierungsverbot?

Vosgerau: Nein. Daß bestimmte Grundrechte als Deutschen-Grundrechte ausgestaltet sind, ist gegenüber der allgemeinen Gleichbehandlung aus Artikel 3 des Grundgesetzes eine „abweichende Verfassungsentscheidung“. Das ist wie mit der Wehrpflicht nur für Männer: kein Verstoß gegen die Gleichheit der Geschlechter, da Artikel 12 a nicht an Artikel 3 Absatz 2 gemessen wird, beide Normen sind gleichrangig. Am Grundgesetz gemessen wird das einfach-gesetzliches Recht.

Aber gelten nicht die Grundrechte der Artikel 8, 9, 11 und 12 schon jetzt nicht nur ausschließlich für Deutsche, sondern auch für Bürger von EU-Staaten?

Vosgerau: Ja, das ist richtig, und daran sieht man schon die beschränkte Relevanz der vorgeschlagenen Grundgesetzänderung. Gemäß Artikel 18 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union („Lissabon“), der dem Grundgesetz per „Anwendungsvorrang“ vorgeht,  ist Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit im allgemeinen verboten. Hier kann man übrigens gut sehen, wie das Europarecht funktioniert: Vorgeschrieben ist nur das Ergebnis; wie wir im nationalen Rahmen rechtsdogmatisch dorthin gelangen, bleibt uns überlassen. Daher gibt es eine ganze Reihe von konstruktiven Theorien, zwischen denen nicht entschieden werden muß, weil das Ergebnis immer gleich ist und von Brüssel her vorgeschrieben wird. Herkömmlicherweise war es ja der schlimmste Vorwurf an einen Juristen, wenn man sagte, „er denkt vom Ergebnis her“. Im Europarecht muß man das aber, es funktioniert anders als herkömmliches Recht und ist – auch wenn manche Europarechtler das gern anders sehen wollen – eben gerade kein Verfassungsrecht, sondern Planungsrecht, eben: Völker-Planungsrecht.

Ist das ganze vielleicht eher als Symbolpolitik zu werten oder hätte es praktische Auswirkungen?

Vosgerau: Die Umformulierung der „Freizügigkeit im Bundesgebiet“ als Jedermann-Grundrecht hätte katastrophale Folgen, denn dann wäre ja die Residenzpflicht für Asylbewerber sofort abzuschaffen, und die „Anker-Zentren“ natürlich erst recht. Das gab es ja auch schon, daß Asylbewerber aus Bayern, denen es da nicht gefiel, nach Berlin gezogen sind und dann diese Schule besetzt haben. Nach Änderung des Artikels 11 hätte also jeder Asylbewerber das Recht, sich in Berlin niederzulassen. Im übrigen wäre die Änderung symbolischer Natur, da die vom Grundgesetz vorgesehen Unterschiede längst nivelliert worden sind. Das geschieht auf zwei Wegen. Einmal kann der einfache Gesetzgeber Deutschen-Grundrechte durch einfaches Gesetz allen Leuten gewähren, so liegt der Fall beim Versammlungsrecht. Nach dem Bundesversammlungsgesetz war die Versammlungsfreiheit schon immer als Jedermannrecht ausgestaltet. 

Das heißt: In der Praxis gibt es schon längst, was die Linkspartei fordert?

Vosgerau: Seit 2006 können die Länder sich eigene Versammlungsgesetze geben, wenn sie wollen, und alle Länder, die das bisher getan haben, haben ebenfalls ein Jedermannrecht daraus gemacht. Das ist nicht völlig unzweifelhaft, denn immerhin weicht der Gesetzgeber hier von einer Grundentscheidung des Grundgesetzes ab. Aber im Ergebnis ist es wohl in Ordnung, denn der einfache Gesetzgeber darf mehr Rechte gewährleisten, als er grundgesetzlich müßte; die Grundrechte sind ja immer auch Minimalgarantien, haben aber keine „Deckelungsfunktion“. Anders liegt es bei den übrigen Deutschen-Grundrechten, wie etwa der Berufsfreiheit. Hier haben die Gerichte, angeführt vom Bundesverfassungsgericht, auch ohne jede entsprechende einfach-gesetzliche Vorgabe Deutsche und Ausländer weitgehend gleichgestellt, indem sie sagen: die Berufsfreiheit eines Nicht-EU-Ausländers folgt dann eben aus Artikel 2, in dem von der „freien Entfaltung der Persönlichkeit“ die Rede ist, worunter das Bundesverfassungsgericht aber bereits seit 1957 eine „allgemeine Handlungsfreiheit“ versteht. Diese „freihändige“ Gleichstellung von Deutschen und Nicht-EU-Ausländern durch Gerichte, ohne einfachgesetzliche Grundlage und entgegen der Grundentscheidung des Grundgesetzes ist an sich ein Ding der Unmöglichkeit. Die akademische Opposition dagegen besteht, soweit erkennbar, aus Christian Hillgruber und mir, alle anderen sagen ja und Amen, man will ja nicht „ausländerfeindlich“ sein. Die letzte Relevanz, die die Ausgestaltung des Artikels 12 als Deutschengrundrecht heute noch haben dürfte, ist der Umstand, daß Deutsche von den „Jobcentern“ prioritär vermittelt werden. Große Relevanz dürfte das nicht haben, begehrte Jobs, um die heftig konkurriert wird, werden im allgemeinen ohnehin nicht über das Jobcenter vermittelt. Wenn diese Bevorzugung wegfiele, bliebe nur wieder ein politisches Symbol: Deutsche haben in Deutschland noch lange keine Vorrechte, Deutschland ist schließlich für alle da! Ich rate ab. 







Dr. Ulrich Vosgerau, Jahrgang 1974, ist habilitierter Staats-, Völker- und Europarechtler sowie Experte für Öffentliches Recht.