© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/19 / 04. Januar 2019

Aus der Vielfalt erblüht die Einheit
Weltkulturerbe bewahren: Die Unesco hat 2019 zum Jahr der indigenen Sprachen ausgerufen
Günter Zehm

Die Unesco, jener Ableger der Uno in Paris, der für den Erhalt des sogenannten Weltkulturerbes zuständig ist, hat das Jahr 2019 zum „Jahr der indigenen Sprachen“ ausgerufen, das heißt zum Jahr der Muttersprachen, in die man hineingeboren wird („indigen“ heißt „eingeboren“) und deren Grundlagen man schon als Kind erlernt, ohne auch nur einen einzigen Tag in der Schule gewesen zu sein. Indigene Sprachen sind an sich ein Thema der Biologie, haben mehr mit Natur als mit Kultur zu tun. Wieso kümmert sich plötzlich ausgerechnet die Unesco um solch einen Gegenstand?

Ja, heißt es in den offiziellen Verlautbarungen, die indigenen Sprachen gehörten tatsächlich dringend auf die Rote Liste der bedrohten Arten, wie Pandabär, Borneo-Orang-Utan und Wanderfalke. Die technische und industrielle Globalisierung und die damit verbundenen Fachsprachen, besonders das Englische, überrollten die indigenen Sprachen buchstäblich. Parallel zum Aussterben von Tierarten finde zur Zeit ein massives Sprachensterben statt. Vor allem „kleine“ Sprachen, Sprachen von Völkern und Volksgruppen, die ohne ordentliche Vorbereitung in den Prozeß der Globalisierung hineingerissen würden, erlitten geradezu ein brutales Schicksal; mehr als die Hälfte sei vom Aussterben bedroht.

Es handle sich nicht „nur“ um einen simplen Prozeß der Verdrängung und des Sprachaustauschs, sondern die indigenen Sprachen würden zusätzlich dazu regelrecht zersetzt und primitivisiert. Zunächst sieht das wie normale Sprachentwicklung aus; neue Vokabeln für neue Gerätschaften und Bedienungsvorschriften werden übernommen und der muttersprachlichen Grammatik und ihrem Lautmilieu angepaßt. Doch je weiter die Modernisierung fortschreite, um so mehr veränderten sich auch die semantischen Grundbestände – und zwar zum Schlechteren.

Jede Sprache, auch und vor allem die indigene, besitzt von Natur aus  einen festen Stamm von Grundwörtern und ein reiches Arsenal von traditionsgeprägten Dauer-Metaphern und Analogien, die Struktur geben und jeder Form angesagter Nachäfferei von Fremdem sowie jedem bloßen Fach- und Bürokratenjargon spontan Grenzen aufzeigen. Doch dieser Grenzzaun, sagt die Unesco, wird heute im Zeichen von Globalisierung und hemmungsloser Verbrauchergesinnung niedergerissen, und das hat natürlich gravierende Folgen für die Sprache. Sie verwandelt sich peu à peu in einen bloßen Fabrik- und Kaufhausjargon.

Übrigens gilt das keineswegs nur, wie die Unesco-Initiative hier und da nahezulegen scheint, für „kleine“ Sprachinseln irgendwo am Amazonas oder in Neuguinea; sondern große, von Millionen gesprochene Sprachen in Europa oder Asien sind davon nicht weniger betroffen. Politiker und Großbürokraten melden sich dort immer wieder zu Wort und plädieren ungeniert für die Abschaffung der Muttersprache als Lehrfach in den Schulen und ihre Ersetzung durch das Englische, da dieses doch viel besser zur „Effizienzerhöhung“ beitrage als die Muttersprache. 

Einzig das technokratische Pidgin-Englisch von heute garantiere, so sagen  sie, „technische Kompatibilität der Kommunikationsmittel“, „Einspeisungsmöglichkeit der Sprache in internationale elektronische Systeme“ und, und, und. „Für den Feierabend“ aber, wenn man sich von der „kalten“ Techniksprache erholen wolle, schlug seinerzeit einer dieser politischen Großbürokraten, Günther Hermann Oettinger aus Stuttgart, inzwischen in Brüssel EU-Kommissar für Haushalt und Personal, allen Ernstes vor, solle man hierzulande an den Schulen doch besser „als zweite Sprache“ statt Hochdeutsch den angestammten Dialekt lehren, Alemannisch beispielsweise.

Ungerührt weggekehrt wurde das, was indigene Sprache eigentlich ausmacht: die semantische Abbildung und Erkundung jener Möglichkeiten zwischen bloßem technisch-mathematischen Kalkül und infernalischer Spontaneität, aus denen erst jene Feinheit des Lebens erwächst, um die es der ums Weltkulturerbe bemühten Unesco offenbar zu tun ist: jenes Transzendieren und interesselose Differenzieren also, aus der am Ende alle Kultur erwächst, die ihren Namen und ein Aufheben verdient.

Wie steht es denn mit den vielen indigenen Sprachen Europas? Könnetn sie alle in technokratisches Pidgin-Englisch aufgelöst werden, ohne daß damit ein ungeheurer Verlust an Weltkulturerbe entstünde und der Name Europas als Kulturfaktor für immer ausgelöscht würde? Man darf daran zweifeln. Erinnert sei an den historischen Streit zwischen dem italienischen Schriftsteller und Semiotiker Umberto Eco und der französischen Kulturhistorikerin und Sprachforscherin Barbara Cassin zu Beginn des 21. Jahrhunderts, der sich genau um diese Frage drehte. 

Einig waren sich beide, Eco wie Cassin, in der Ablehnung des technologischen Pidgin-Englischs, das sie verächtlich „Globisch“ nannten, als europäischer Gesamtsprache. Beide sagten: Nie und nimmer wird dieser Slang zur Sprache eines geeinten Europas werden, dazu ist er zu wurzellos, zu sehr an flüchtiger Halbverständigung auf Kongressen und bei Popkonzerten orientiert, zu unkräftig.

Indes, man zog (scheinbar) völlig verschiedene Schlußfolgerungen aus der gemeinsamen Einsicht. Ecos Standpunkt klang eher harmlos. Globisch, konstatierte er, kann uns nie und nimmer die Seele rauben, wir müssen aber in allen Ländern eine intensive, ausgedehnte und höchsten Ansprüchen genügende Übersetzerkultur entwickeln, müssen die Übersetzer gewissermaßen zur privilegierten Kaste machen, wie man das früher mit den Offizieren und noch früher mit den gelehrten Mönchen getan hat. Dann wird alles gut.

Frau Cassin hatte eine Menge gegen solche „Harmlosigkeit“ einzuwenden. Die Übersetzer können noch so gut sein, höhnte sie, sie kommen trotzdem nie an die Sprache heran, aus der oder in die sie übersetzen. Je besser ein Übersetzer ist, um so zögerlicher und skrupelhafter wird er beim „Übersetzen“. Denn der Übersetzer hat es mit „Begriffen“ zu tun, die Sprachen hingegen bestehen aus „Wörtern“, die sich nur teilweise mit Begriffen decken, wenn überhaupt. 

Das war eine wahrhaft spektakuläre Behauptung! Bleibt denn, wenn sie stimmt, noch etwas von Europa als wahrnehmbarer Sprachgemeinschaft übrig? Durchaus, sagte Frau Casssin. Indem die europäischen Nationen sich mit voller Empfindlichkeit dem Verständnis und der Pflege ihrer jeweiligen indigenen Sprache widmen, wachsen sie zu einer einzigartigen Einheit zusammen, einem privilegierten Klub, der die Sprache wirklich ernst nimmt und sich gerade dadurch positiv von anderen Weltgegenden abhebt. Anders ist ein Begriff von Europa nicht vorstellbar.  

Wir Europäer, sagte damals Frau Cassin, finden unsere Identität in erster Linie nicht, indem wir das Sprachensterben lauthals aktiv bejammern und verdammen, sondern indem wir es einfach ignorieren. Unsere „kleinen“ Sprachen, das Baskische etwa oder das Maltesische, brauchen keine Angst vor der Auslöschung zu haben. Entsprechend ausführlich sind Baskisch, Maltesisch e tutti quanti in Cassins berühmtem „Wörterbuch der Unübersetzbarkeiten“ (Vocabulaire européen des philosophies, Edition de Seuil, Paris 2004) vertreten, quasi gleichberechtigt neben den „großen“ Sprachen, zu denen selbstverständlich auch das Ukrainische, das Finnische oder das Albanische gehören.

Jeder hat letztlich seine eigene Sprache, die nie ganz in die Sprache des anderen übersetzbar ist. Und was für den einzelnen gilt, das gilt selbstverständlich auch für die Sprachgemeinschaft insgesamt. Die semantischen Verabredungen, die sie trifft, geschehen gleichsam situativ, aus speziellen raumzeitlichen Gegebenheiten und Stimmungen heraus, welche später nur noch schwer nachzuvollziehen, noch schwerer zu rekonstruieren sind. Auch die eigene Muttersprache bleibt uns in manchen Dimensionen ein Leben lang fremd und muß immer wieder für den aktuellen Sprachgebrauch „übersetzt“ werden.

Man kann auch sagen: Wir suchen, selbst in der Muttersprache, ständig nach dem Begriff, auf dem wir unsere Wörter unterbringen und verfügbar halten können. Die Wörter leiden darunter, verlieren beträchtlich an Welthaltigkeit und Sinnhaftigkeit, am meisten natürlich, wenn es sich um bloße Quantitäten und algorithmisch vorgegebene Verhaltensweisen handelt. Die Wörter werden skrupellos instrumentalisiert, werden zu bloßen Servicepartikeln. Aber anders können wir in den heraufziehenden digitalisierten Welten nicht überleben.

Doch das ist nur die eine, die dunklere Hälfte der Wahrheit. Die andere leuchtet in dem dankbaren Stolz auf, den wir Menschen hegen dürfen, weil wir als einzige hier auf der Erde einer wirklichen Sprache teilhaftig geworden sind, welche einzig im Stadium der Indigenität, der Heimathaltigkeit und der Verbundenheit mit der Natur ihren echten Klang entfaltet. Ein Jahr der indigenen Sprachen war schon lange nötig, jetzt, 2019, ist es angebrochen. Hoffentlich wird man es später in wohlwollender Erinnerung behalten können.