© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/19 / 04. Januar 2019

Im Zweifel lieber gegen eigene nationale Interessen
Der Mainzer Historiker Andreas Rödder analysiert Deutschlands Positionierung in Europa
Peter Seidel

Auch in der deutschen Europapolitik sagen wenige Zahlen oftmals mehr als viele Worte. Auf eine solche wichtige Zahl hat jetzt Andreas Rödder in seinem neuen Buch hingewiesen: Die Bereitschaft der Großen Koalition in Berlin, die jährlichen Zahlungen an Brüssel freiwillig von 30 auf 45 Milliarden Euro zu erhöhen, entspreche der Summe der Reparationen Deutschlands nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg: Die damaligen Verpflichtungen „entsprächen im Jahr 2018 einer Summe von 30 bis 50 Milliarden Euro – jährlich, und mit unabsehbarem Ende“.  

Rödders neues Buch trägt den Titel „Wer hat Angst vor Deutschland? Geschichte eines europäischen Problems“. Und wie zuvor schon ist dem Autor wieder ein äußerst lesenswertes Buch gelungen. In den vier Hauptkapiteln verfolgt er die verschiedenen Deutschlandbilder des 19. und 20. Jahrhundert, jeweils aus deutscher und aus ausländischer Sicht. Sein lobenswerter Ansatz: Ob Wahrnehmungen stimmen oder nicht, wenn sie geglaubt werden, dann sind sie real und damit in der praktischen Politik in Rechnung zu stellen. Und so stehen sich immer wieder die unterschiedlichsten Interpretationsvarianten gegenüber, und es erfordert manchmal schon mehr als nur ein paar historische Kenntnisse, um Rödders Schlußfolgerungen einschätzen zu können, vor allem die im abschließenden fünften Kapitel zur Beantwortung seiner Eingangsfrage nach der Angst vor Deutschland. 

Dieser Ansatz ist Rödder bei allem Mut zur deutlichen Benennung von sonst nicht selten unter den Tisch fallender Fakten auch auf den Leib geschrieben: Seine Darstellungen lassen an Vollständigkeit und Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Doch wie paßt dann zu seinen eingangs erwähnten Zahlen die Aussage von deutscher „Larmoyanz, sich selbst als benachteiligt zu empfinden“, wie es etwa in der Rede von den Deutschen als „Zahlmeister Europas“ zum Ausdruck komme? Wenn der Autor seinem eigenen Rat folgen würde, „die Sicht der anderen einzubeziehen“, dann hätte er darauf hinweisen können, daß die jetzt die EU verlassenden Briten pro Jahr lediglich sieben Milliarden Euro nach Brüssel zahlten. 

Wie schon zuvor bekommt der Leser deshalb auch beim neuen Buch des Mainzer Geschichtsprofessors den Eindruck, in jedem Fall eben auch Ausgewogenheit (oder jedenfalls die Vollständigkeit möglicher Argumente) angesichts der Präsentation auch „politisch unkorrekter“ Faktenpräsentation gewährleisten zu wollen. Dies führt dann in dem ein oder anderen Fall auch zu schwer nachvollziehbaren Schlußfolgerungen.

Diese Schwäche kann den Wert des Buches aber nur geringfügig mindern, zumindest für den kundigen politischen Betrachter. Es ist ein hervorragender Führer durch historische Fehlperzeptionen, eigene und fremde, aber auch durch aktuelles Politsprech, das – bewußt oder unbewußt – mit solchen Fehlperzeptionen Mehrheiten gewinnen oder erhalten will. So liefert Rödder beispielsweise eine durchaus kritische Bilanz deutscher Außenpolitik, die sich nicht zuletzt durch eine manchmal süffisante, manchmal sarkastische, aber immer lesenswerte Darstellung deutscher ideologischer Grabenkämpfe auszeichnet, so etwa, wenn er über Protagonisten wie Habermas und Grass, den deutschen Übergang „vom Opfergefühl zur Schuldkultur“ oder den Widerwillen westdeutscher Eliten gegen Veränderungen nach 1989 schreibt.

Von „universalistischen Humanitarismus“ geprägt 

Besondere Würdigung verdient das letzte Kapitel wegen seines Versuchs, unter Rekurs auf die Politik der früheren Reichskanzler Bismarck und Stresemann etwas Gelassenheit und Bodenhaftung in die bundesdeutsche europapolitische Euphorie zu mengen, etwa wenn es darum geht, „Revisionen von Integrationsschritten konstruktiv zu erwägen, statt sie über Sprachformeln wie die der ‘Alternativlosigkeit’ auszuschließen“. Und weiter: „Eine flexible Europäische Union wäre sowohl zur Vertiefung als auch zum Rückbau in der Lage.“ Doch dann irritieren Stellungnahmen wie jene,   Deutschland könne zusätzlich zahlen, etwa durch „einen großzügigen Beitrag zur Finanzierung“ von Gemeinschaftsaufgaben oder durch „direkte Unterstützungsleistungen für andere Länder oder bestimmte Anliegen“.

Besonders aufschlußreich ist sein Hinweis auf die Gründe für unterschiedliches Wahlverhalten in Ost- und Westdeutschland, das über das Gerede von den „Globalisierungsverlierern“ signifikant hinausgeht: Die Abkehr der SED-Führung von der einen Nation habe zur Folge gehabt, daß „die Idee der Nation in der DDR 1989 deutlich präsenter als in der westlichen Bundesrepublik“ gewesen sei. „Das bundesrepublikanische Selbstverständnis prägte freilich das vereinte Deutschland“ mit seinem „universalistischen Humanitarismus“  und seiner „Tendenz zur moralisch-kulturellen Selbstüberhöhung“. Ein seltener Hinweis, der zugleich auf mögliche Perspektiven hinweist. 

Aufgrund weitgehend fehlender realistischer Perspektiven aktueller deutscher Europapolitik in einem Europa am Scheideweg ist das Buch zugleich ein Werk des Übergangs, wenn auch vorerst nur in der Reflexion. Die Perspektiven der Zukunft werden andere sein, Rödder deutet sie immer wieder an. Ihm ist deshalb zuzustimmen, wenn er erklärt: „Aus europäischem Interesse gegen die nationalen Interessen zu handeln würde nicht nur gravierende Fehlanreize setzen, sich auf Deutschland zu verlassen. Es wäre in Deutschland auch ebenso schwer umzusetzen wie in anderen Staaten und würde die Legitimität der Europäischen Union in Deutschland auf Dauer untergraben.“ Ein kluger Rat. Doch werden die in Deutschland besonders integrationsfreundlichen Eliten mit ihrem Hang zur Scheckbuchpolitik ihn beherzigen? Vorerst sieht es jedenfalls eher nicht so aus.

Andreas Rödder: Wer hat Angst vor Deutschland? Geschichte eines europäischen Problems. S. FischerVerlag, Frankfurt am Main 2018, gebunden, 368 Seiten, 20 Euro