© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 03/19 / 11. Januar 2019

Eine rote Heiligenlegende
Seit 100 Jahren: Luxemburg und Liebknecht stehen im Zentrum linker Verehrung
Karlheinz Weißmann

Wenn es um den Tod von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht geht, gibt es eine kanonische Deutung: sie wurden ermordet, von der Hand einiger Freikorpssoldaten, Büttel des „Weißen Terrors“, brutalisiert durch den Krieg und männerbündische Vorstellungen vom Recht des Stärkeren. Daß der Begriff „kanonisch“ einen religiösen Beigeschmack hat, ist kein Zufall. Denn auch die Art der Verehrung für beide weist religiöse Züge auf. Ihre Bilder sind standardisiert wie Ikonen, der alljährliche Trauerzug hat etwas von Pilgerschaft, und die Verehrung gilt nicht irgendwelchen Politikern oder Theoretikern der Vergangenheit, mit denen man sympathisiert, sondern Märtyrern.

Der Ursprung des Rituals, das sich um „Karl und Rosa“ gebildet hat, liegt in der Weimarer Republik. Die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) hatte schon die Bestattung ihrer toten Führer nach dem Januar-Aufstand 1919 als Mischung aus Demonstration und Wallfahrt inszeniert. Das später von Mies van der Rohe entworfene Grabmal auf dem Zentralfriedhof Friedrichsfelde wirkte wie eine futuristische Weihestätte. Zum Todestag folgten die Aufmärsche, bei denen das revolutionäre Proletariat seinen Schwur erneuerte, den Idealen der Ermordeten treu zu bleiben und deren Geist in ihrem Kollektiv weiterleben zu lassen. Nach dem Zweiten Weltkrieg kombinierte die DDR diese Liturgie mit der Ehrung Ernst „Teddy“ Thälmanns, des letzten KPD-Vorsitzenden der Zwischenkriegszeit, der in einem Konzentrationslager liquidiert worden war. So entstand eine Art roter Trinität, verklärt und allem Irdischen ferngerückt.

Robert Michels, ursprünglich selbst Sozialist, analysierte die Grundzüge linker „Heiligenkulte“ schon an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Ihm ging es dabei um die Klärung des irritierenden Sachverhalts, daß eine Bewegung, die sich entschieden antireligiös, wenn nicht atheistisch gab, permanent die Rationalität und „Wissenschaftlichkeit“ der eigenen Weltanschauung beschwor, trotzdem alle Züge einer Religion aufwies. Ganz gleich, ob es dabei um die Dogmen ging, die aus der sakrosankten Lehre von Marx und Engels abgeleitet wurden, oder um die rabiate Verfolgung aller „revisionistischen“ Ketzer, um den Fetisch Rote Fahne und die Maifeiern mit gottesdienstähnlichen Zügen oder um die Parusie-Erwartung, daß die Geschichte schrittweise oder mit einem Schlag zu jener „Association“ freier Menschen führen werde, die im Kommunistischen Manifest verheißen worden war.

Einen Platz im Zentrum linker Verehrung hatten immer die, die ihr Leben für die Bewegung gaben. Die Partei des Proletariats nährte sich auf dieselbe mystische Weise von ihrem Opfer wie die frühe Kirche vom Blut ihrer Glaubenszeugen: die Märzgefallenen, die Erschossenen der Pariser Commune, die in Amerika hingerichteten Anarchisten Sacco und Vanzetti. In diese Reihe gehörte aber auch Ferdinand Lassalle, der Gründervater der ersten Arbeiterpartei Deutschlands. Daß Lassalle in einem Duell getötet worden war, das er um der Ehre einer Dame willen ausgefochten hatte, trat dabei völlig in den Hintergrund. Überraschend ist das nicht. Denn es gehört zum Wesen jeder Heiligenlegende, daß die konkreten Umstände in den Hintergrund treten, die tatsächlichen Wesenszüge des Toten idealisiert, irritierende Tatsachen verschwiegen oder umgedeutet werden.

Nicht anders verhält es sich mit Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. Sie gelten heute, weit über die Anhängerschaft der Postkommunisten hinaus, als frühe Opfer „rechter“ Gewalt, als – möglicherweise irregeleitete – Idealisten, die sich aber doch für „die da unten“ eingesetzt haben und letztlich für das stritten, was man neuerdings eine „inklusive“, also egalitäre, Gesellschaft nennt. Dabei verliert sich völlig, daß der eine wie die andere Akteur war, willens Hoch- und Landesverrat zu begehen, um die eigene Machtergreifung vorzubereiten, und daß sie in einem Bürgerkrieg zugrunde gingen, der nicht einfach über sie gekommen war, sondern den sie nach Kräften geschürt hatten. Das war den Zeitgenossen noch bewußt, selbst wenn sie die Umstände der Tötung nicht guthießen und für die Motive der Täter keine Sympathie hatten. Harry Graf Kessler notierte jedenfalls bei Bekanntwerden des Todes von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht in seinem Tagebuch: „Sie haben durch den Bürgerkrieg, den sie angezettelt haben, so viele Leben auf dem Gewissen, daß an sich ihr gewaltsames Ende sozusagen logisch erscheint, daß hier zwei von einer Kraft vernichtet wurden, die sie zu entfesseln geholfen hatten.“

Das wieder ins Bewußtsein rücken heißt auch die Frage stellen, was geschehen wäre, wenn sich die Entwicklung nicht in der Weise vollzogen hätte, wie sie es tat. In den dramatischen Wochen zu Beginn des Jahres 1919 waren viele der Überzeugung, daß eine kommunistische Machtübernahme in Deutschland denkbar sei. Auch in Rußland hatte eine entschlossene Minderheit gehandelt, war die Nationalversammlung auseinandergejagt und ohne Rücksicht auf die Folgen der Terror gegen den Klassenfeind entfesselt worden. 

Daß es dazu in Deutschland nicht kam, hatte sicher damit zu tun, daß die KPD ungleich schwächer war als die KPR, daß es hier nicht gelang, die Rätebewegung zu instrumentalisieren, daß Liebknecht kein Lenin war und seine Fähigkeiten notorisch überschätzte und Luxemburg dazu neigte, sich in ihren eigenen theoretischen Erwägungen zu verlieren und versuchte, das Unvereinbare zusammenzuzwingen. Vor allem aber war es die Entschlossenheit ihrer Gegner, das Zusammengehen von Mehrheitssozialdemokraten (MSPD) und altem Heer, das in Deutschland verhinderte, was Rußland zugrunde richtete.