© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 03/19 / 11. Januar 2019

„Als demokratische Vorbilder ungeeignet“
1919 fiel die Demokratie beinahe dem „Spartakusaufstand“ zum Opfer. Dennoch gelten Liebknecht und Luxemburg als moralische Sieger. Warum wird das kommunistische Diktatur- und Terrorpotential bis heute gerne ausgeblendet? Fragen an den Historiker Horst Möller
Moritz Schwarz

Herr Professor Möller, ist die alljährliche Liebknecht-Luxemburg-Demonstration in Berlin für unsere Demokratie akzeptabel?

Horst Möller: Gegen ein reines Totengedenken für die beiden Spartakistenführer Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, die am 15. Januar 1919 von rechtsextremen Freikorpssoldaten ermordet wurden, ist nichts einzuwenden. 

Aber ist diese, in der DDR gar als Staatsakt gepflegte Demonstration denn ein „reines Totengedenken“?

Möller: Sie deuten den springenden Punkt  an. Doch gebietet die Meinungsfreiheit, daß auch politische Heldenverehrung möglich sein muß. Aus Sicht des Historikers jedoch ist klar, daß Liebknecht und Luxemburg sich nicht als  Vorbilder für eine und in einer Demokratie eignen. 

Warum nicht?

Möller: Weil sie keine Demokraten waren, sondern eine Diktatur wollten.

Ja, aber doch eine progressive Diktatur.

Möller: Ich billige zu, daß sie Idealisten waren, keine Verbrechen planten und die Diktatur des Proletariats für „demokratisch“ hielten. Tatsächlich aber schließen sich Diktatur und Demokratie aus.  

Solch ein Hinweis fehlt allerdings meist in der Berichterstattung der Medien – etwa der Tagesschau, die die Demo jedes Jahr durch Berichterstattung würdigt.  

Möller: Eben das halte ich für verfehlt. Natürlich kann man an ihr Schicksal erinnern und daran, daß vor allem Rosa Luxemburg eine bedeutende marxistische Intellektuelle war, aber nicht ohne Hinweis auf ihren Standpunkt: Auch sie forderte eine „Diktatur des Proletariats“, also die Diktatur einer Klasse – das hat sie selbst so gesagt.

Dennoch gibt es Luxemburg-Straßen, -Denkmäler und -Plätze – etliche, wie in Dresden, Weimar oder Erfurt, erst nach dem Ende der DDR geschaffen. Der Rosa-Luxemburg-Platz im Zentrum Berlins ist mit seinen in den Boden eingelassenen Zitaten aus ihrer Feder gar beinahe eine Art Weihestätte. Eine Briefmarke der früheren Bundespost, eine politische Stiftung, ein mit dem Bundesfilmpreis der Bundesregierung ausgezeichneter Kinofilm, ein Theaterstück, gar eine Luxemburg-Orchesterkomposition existieren. Wie ist dieser Kult um eine Antidemokratin zu erklären?

Möller: Damit, daß sich ihr Opferstatus, der natürlich unbestritten ist, längst verselbständigt hat. Dadurch werden die Inhalte, für die die beiden stehen, ausgeblendet. Doch nach diesem Prinzip könnte man auch Opfer der Stalinschen Säuberungen, die zuvor selbst zur bolschewistischen Diktatur zählten, ebenso ehren wie deren unschuldige Opfer. 

Aber von Luxemburg stammt doch der berühmte Satz „Freiheit ist immer auch die Freiheit des Andersdenkenden“, der inzwischen gar als die Essenz wahrer demokratischer Gesinnung gilt. 

Möller: Diese falsche Interpretation erklärt sich aus der Unkenntnis des Kontextes: Luxemburg schrieb den Satz in ihrem Aufsatz über die Russische Revolution als Kritik an Lenin, es ging ihr um die unterschiedlichen Ansichten innerhalb des Marxismus. Keineswegs aber meinte sie die Freiheit wirklich Andersdenkender, wie Konservativer,  Liberaler  oder Sozialdemokraten.

Wie erklären Sie sich, daß das öffentliche Bild Luxemburgs offenbar so falsch beziehungsweise unvollständig ist? 

Möller: Es mag zynisch klingen, doch möglicherweise zog die radikale Linke aus diesem Doppelmord propagandistischen Nutzen. Nicht nur wegen des so geschaffenen Märtyrerstatus, sondern vor allem, weil Liebknecht und Luxemburg deshalb, anders als andere kommunistische Führer, nie zur Macht gekommen sind. So blieben sie von der Machtausübung „unbefleckt“, und einen Diktaturvorwurf kann man ihnen faktisch nicht machen, sondern ihn nur aus ihren politischen Zielen herleiten. 

Und dennoch ist er stichhaltig?

Möller: Ich meine, ja. Nehmen Sie die Revolutionsrede Liebknechts am 9. November 1918 auf dem Balkon des Berliner Schlosses, in der er nicht nur die „freie sozialistische Republik Deutschland“ ausrief, sondern auch von den „sowjetischen Brüdern“ sprach – die ja seit über einem Jahr eine rücksichtslose bolschewistische Terrordiktatur ausübten. 

Das enorme Ausmaß der kommunistischen Verbrechen ist inzwischen gut erforscht. Dennoch kommen die Erkenntnisse irgendwie nicht richtig in der Gesellschaft an, wo der Kommunismus immer noch als freundlich, wenn auch nicht praxistauglich gilt. Warum dringt das gegenteilige Wissen der Geschichtswissenschaft, anders als bei den NS-Verbrechen, nicht wirklich durch? 

Möller: Das hat auch mit einer Tradition in der intellektuellen Linken zu tun, „linke“ Verbrechen gerne auszublenden, wenn nicht zu leugnen, dann zumindest   als unvermeidlich für den guten Zweck zu erklären – während man die des Nationalsozialismus, zu Recht, anprangert. Das ist politische Einäugigkeit. Dazu kommt eine Begriffsverwirrung, die bis in die gesellschaftliche Mitte reicht. Wenn etwa  von „demokratischem“ Sozialismus, Deutscher „Demokratischer“ Republik oder  von „Volksdemokratien“ die Rede ist. Denn in keinem der Fälle ist das Wort Demokratie gerechtfertigt, dennoch wird es wie selbstverständlich benutzt.

Dagegen wird beim Islamischen Staat peinlich auf das „sogenannte“ geachtet. Warum gilt diese Sorgfalt nur dort?  

Möller: Das eben verstehe ich auch nicht. Ich habe „Volksdemokratie“ etc. nie benutzt, weil man sich sonst an der Kaschierung von Diktaturen beteiligt.   

Beim Nationalsozialismus gilt Leugnen oder sogenanntes Relativieren als verabscheuungswürdig und kriminell – nach Ralph Giordano rangiert es gar nahe dem Holocaust selbst, als eine „zweite Schuld“. Warum gilt das nicht auch für die Verbrechen des Kommunismus? 

Möller: In der Tat ist das wohl eine Art intellektuelle Verblendung. Der französische Philosoph Raymond Aron hat schon 1955  in seinem Buch „Opium für Intellektuelle“ eben das kritisiert. Denn entweder vertritt man die Geltung der Menschenrechte. Dann kann man sie  nicht vom politischen Standort dessen abhängig machen, der sie verletzt, sondern muß stets gleich konsequent auf ihre Verletzung reagieren. Oder man tut das nicht, kann dann aber nicht in Anspruch nehmen, Verteidiger der Menschenrechte  zu sein.

Der derzeit populäre kanadische Publizist und Kulturkritiker Jordan Peterson hält den verharmlosenden Umgang mit dem Kommunismus für eine Art Hochmut: Offenbar hielten sich alle, die heute noch in irgendeiner Art mit ihm liebäugeln, für etwas Besseres, da sie sich sicher zu sein scheinen, etwas beherrschen zu können, woran jeder vor ihnen gescheitert ist.

Möller: Eine berechtigte Schlußfolgerung, schließlich haben bisher sämtliche kommunistischen Staatsversuche in die Diktatur und in den Terror geführt. Und die Zahl ihrer Opfer weltweit ist extrem hoch! Man spricht von 100 Millionen, wobei man über die absolute Zahl streiten kann. Unbestreitbar ist jedoch, daß die kommunistischen Diktaturen – wie die nationalsozialistische – unvorstellbar riesige Leichenberge hinterlassen haben.    

Wie kann man angesichts dessen eigentlich Kommunisten oder auch Postkommunisten immer noch „Idealismus“ zubilligen? 

Möller: Eigentlich ist das nur dann möglich, wenn sich jemand intellektuell und moralisch den Fakten völlig verweigert. Andererseits muß man dem ursprünglichen Marxismus schon einen hehren ethischen Anspruch zubilligen. Nur ist es unmöglich, diesen, nach hundertjähriger Erfahrung, ohne die schwerste politische Kriminalität zu sehen, zu der er geführt hat. 

War der Marxismus tatsächlich ursprünglich hehren ethischen Anspruchs? Gerade sein krimineller Aspekt, die Diktatur des Proletariats, stammt doch nicht von Lenin, Stalin oder Mao, sondern von Marx.

Möller: Allerdings stellte der sich nicht vor, daß die Diktatur kriminellen, sondern daß sie ethischen Zwecken dienen würde. Daher beginnt beim Marxismus das ethische Problem „erst“ mit der Praxis. Aber auch eine mit „ethischem“ Anspruch auftretende Diktatur setzt sich selbst absolut und endet im Terror einer banalen Parteibürokratie.

Nationalsozialismus und Kommunismus stellen sich beide ein aus ihrer Sicht paradiesisches Reich vor, in dem die „richtigen“ Menschen ihrer angeblich wahren Natur nach zufrieden leben, nachdem alle „falschen“ Menschen vernichtet worden sind. Wo ist der Unterschied? 

Möller: Entscheidend ist nicht die ideale Vorstellung, sondern die bisher zwangsläufig daraus folgende Realität. Die Welt, die sich der ursprüngliche Marxismus vorstellt, wäre schön – wenn sie zu erreichen wäre. 

Zum einen ist nach eigener Vorstellung auch die Welt des Nationalsozialismus „schön“, da er davon ausgeht, die Entfremdung des Menschen sei – nach dem Rassenmord – in der klassenlosen NS-Volksgemeinschaft aufgehoben. Zum anderen klebt ebenso an der „schönen“ Welt des Kommunismus unweigerlich das Blut massenhaften Klassenmords.

Möller: Das wissen wir heute. Marx aber hat sich das so nicht vorgestellt. Er glaubte an einen Übergang zum Kommunismus, quasi als naturgegebenen historischen Prozeß. 

Auf dessen Ausgestaltung er nicht näher einging – was doch einem Blankoscheck für jeden gleichkommt, der Massenmord für ein Mittel zu diesem Zweck hält. 

Möller: In der Tat changiert dieser Teil bei Marx und bleibt letztlich unklar. Aber er war – ein durchaus hochrangiger – Geschichtsphilosoph und Wirtschaftsdenker, kein praktischer Politiker, und deshalb machte er sich keine genaue Vorstellung von politischen Abläufen. Es kam ihm nicht in den Sinn, daß jene, die später seine Ideen als Revolutionäre umsetzten, als Verbrecher agieren könnten. Ohnehin sah er sie nur als Agenten der Geschichte, die lediglich vollstrecken, was die Geschichte ihnen – nach der von Marx angeblich entdeckten historischen Gesetzmäßigkeit – aufzwingt.       

Gibt es denn Hinweise, wie Marx über geschichtlich „notwendige“ Opfer dachte? 

Möller: Die Französische Revolution von 1789 etwa galt Marx als ein historisch notwendiger Schritt. Daß sie Tausende Opfer kostete, hat ihn nicht sonderlich interessiert. So darf man annehmen, daß er auch massenhafte „Klassenopfer“ im Zuge einer proletarischen Revolution damit quittiert hätte, daß dies eben ein historischer Prozeß sei. Seltsamerweise dachte er übrigens bei Gewalt nicht wie sonst dialektisch: nämlich, daß diese Gegengewalt produziert und somit in einem dialektischen Prozeß zu einem Herrschaftsinstrument werden muß.  

Statt zur Freiheit „muß“ die Revolution also zur Gewaltherrschaft führen? 

Möller: Lassen wir Kriminelle und Sadisten außer acht, die die Gunst so einer Stunde immer nutzen, die aber mit einer Revolution an sich nichts zu tun haben, und betrachten wir nur deren Anhänger: Da diese an sie glauben, fühlen sie sich der Revolution absolut verpflichtet. Was aber absolut ist, rechtfertigt schließlich jedes Mittel. Sicher ist nicht jeder Revolutionär bereit, konsequent bis zum skrupellosen Ende zu gehen, aber Antrieb und Bereitschaft dazu werden durch die Revolution geweckt. Das Gegenteil dazu ist der konservative Weg – der der Entwicklung statt des Umbruchs, der Evolution statt der Revolution. Doch Revolutionären ist der zu lasch, zu kompromißlerisch, zu relativistisch. 

Den Spartakusaufstand stellt man sich vor wie eine – gescheiterte – „deutsche“ Oktoberrevolution. Tatsächlich aber hatte er einen anderen Charakter und wurde trotz des Namens vom Spartakusbund weder ausgelöst noch angeführt. Sondern er entstand durch Aufschaukeln eines Konflikts zwischen revolutionären Arbeiterräten, Kommunisten und Spartakisten mit der SPD-geführten Reichsregierung, die auch Öl ins Feuer goß. War also vielleicht Reichskanzler Friedrich Ebert an allem schuld?   

Möller: Nein, Ebert mußte die Aufstände, aus denen sich der sogenannte Spartakusaufstand zusammensetzte, bekämpfen, um nicht selbst gestürzt zu werden. Sein Sturz hätte zum Scheitern der von ihm für den 19. Januar 1919 durchgesetzten Wahl zu einer demokratischen Nationalversammlung geführt. Es ging also um nichts weniger als um die Rettung der Demokratie. Hätten die Spartakisten und ihre Verbündeten gesiegt, wäre aus Deutschland eine kommunistische Diktatur geworden, wie auch immer diese ausgesehen hätte. Tragik liegt allerdings darin, daß der Weg zur Demokratie nur durch die Hilfe militärischer Gewalt möglich war, sowie um den Preis vieler Opfer und Gewaltakte, meist verübt von rechtsextremen Freikorps, die Ebert nicht kontrollieren konnte, die aber im Gefolge des von ihm gezwungenermaßen zur Hilfe gerufenen Militärs agierten.






Prof. Dr. Horst Möller, war von 1992 bis 2011 Direktor des renommierten Instituts für Zeitgeschichte (IfZ) in München. 1978 begann er als Mitarbeiter von Bundespräsident Walter Scheel, bevor er von 1982 bis 1989 als Ordinarius für Neuere Geschichte an der Universität Erlangen-Nürnberg lehrte und anschließend drei Jahre das Deutsche Historische Institut in Paris leitete. Parallel zu seiner Tätigkeit am IfZ las er außerdem zunächst an der Universität Regensburg, dann an der LMU in München. Der Historiker veröffentlichte zahlreiche Bücher und ist Mitglied in etlichen wissenschaftlichen Beiräten, etwa des Hauses der Geschichte in Bonn, der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin oder des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung in Dresden. Geboren wurde er 1943 in Breslau. 

Foto: Sogenannte Spartakisten hinter einer Barrikade während der Straßenkämpfe in Berlin im Januar 1919: „Keineswegs meinte sie die Freiheit wirklich Andersdenkender“  

 

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