© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 03/19 / 11. Januar 2019

Ein Propagandist strauchelt
Literaturbetrieb: Der österreichische Schriftsteller Robert Menasse verbreitet Geschichtsfälschungen
Thorsten Hinz

Der österreichische Schriftsteller Robert Menasse ist vom preiswürdigen Mustereuropäer zun Bluffer, Fälscher und „Alpen-Relotius“ (Epoch Times) geschrumpft. Er hat Zitate und Fakten erfunden, um zu belegen und zu legitimieren, was ihm politisch, karrieretechnisch und mittelbar auch finanziell zweckmäßig erschien. Dem ersten Kommisionspräsidenten des EU-Vorläufers EWG, Walter Hallstein, hat er unter anderem den Satz in den Mund gelegt: „Die Abschaffung der Nation ist die europäische Idee.“ Weiterhin hat er die Falschbehauptung aufgestellt, Hallstein hätte seine Antrittsrede 1958 in Auschwitz gehalten und daran die Behauptung geknüpft, „daß die Europäische Kommission die Antwort auf Auschwitz ist ...“ Seine Rückzugslinie lautet unbeirrt: „Der Sinn ist korrekt. Die Wahrheit ist belegbar. (...) Was fehlt, ist das Geringste: das Wortwörtliche.“

Menasse hat über Literaturtheorie doziert. Er kennt den Unterschied zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten und weiß, welche Textsorte jeweils angemessen ist. Wer als politischer Redner und Essayist Märchen verbreitet, der belügt sein Publikum ganz bewußt.

Seine Darstellung ist nicht nur falsch, sie ist auch unsinnig. Die Gründung der EWG hatte profane politische Motive. Sie ergaben sich aus dem Ost-West- Konflikt, der kurz nach dem Zweiten Weltkrieg ausbrach. Stalins Marsch zum Atlantik konnte nur gemeinsam, das heißt unter Führung der USA und unter Einschluß der Bundesrepublik, gestoppt werden. Den amerikanischen Wählern, die ihre Boys gern nach Hause holen wollten, war das langfristige Engagement in Europa nur zu vermitteln, wenn die (West-)Europäer ihre Differenzen beilegten und sich auf den Weg der wirtschaftlichen und politischen Zusammenarbeit begaben. So wurden die USA zum „Geburtshelfer“ (Beate Neuss) der EWG.

Trotzdem muß Menasse kein politisches, gesellschaftliches oder soziales Stigma befürchten. Er ist im Kulturund Politikbetrieb gut vernetzt, und der Unfug, den er verbreitet, ist dessen Lebenselixier. Seine Mitstreiterin und Co-Autorin, die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot, hat sich schon entsprechend geäußert: „Auch wenn mein enger Freund und Weggefährte Robert Menasse aktuell in der Kritik steht, so werde ich keine Minute daran verschwenden, mich von ihm oder Äußerungen zu distanzieren.“ Schwer beschädigt ist er dennoch. Seine Auftritte wird fortan das Odium von Peinlichkeit und fehlender Seriosität umgeben.

Seit Jahren ist Menasse mehr als Brüsseler Propagandist denn als Schriftsteller tätig. In Aufsätzen, Broschüren, Reden und Interviews fordert er mehr Macht für die EU-Bürokratie. 2017 trat er sogar im Plenum des Europäischen Parlaments auf. Im selben Jahr erhielt er den Deutschen Buchpreis für den Roman „Die Hauptstadt“, doch auch das war ein rein politischer Akt, denn das Buch ist ein einziges Plädoyer für mehr EU-Zentralismus.

Spätestens mit der Kunstaktion „The European Balcony Project“ war sein Sendungsbewußtsein in Größenwahn-Symptome übergegangen. Am 10. November 2018, dem 100. Jahrestag des Endes des Ersten Weltkriegs, wurde um 16 Uhr in ganz Europa von 150 Theater- und Kulturbalkonen ein „Manifest zur Ausrufung einer Europäischen Republik“ verlesen, das Menasse zusammen mit Guérot verfaßt hatte. Das sorgsam verschwiegene Vorbild der zwei Musterdemokraten war der italienische Dichter und Nichtdemokrat Gabriele D’Annunzio, der 1919 vom Balkon des Rathauses in Fiume (Rijeka) eigenmächtig die Republik Fiume ausgerufen hatte. Anders als vor hundert Jahren hörte diesmal zwar kaum jemand zu, die Angelegenheit wurde nur im Internet rezipiert, doch das „Manifest“ hat es in sich.

Das Europa der Nationalstaaten wird für gescheitert erklärt. An die Stelle der Souveränität soll „die Souveränität der Bürgerinnen und Bürger“ treten und der Gründungsakt darin bestehen, alle, die schon da sind und noch kommen wollen, willkommen zu heißen, weil „der Reichtum Europas auf Jahrhunderten der Ausbeutung anderer Kontinente und der Unterdrückung anderer Kulturen beruht. Wir teilen deshalb unseren Boden mit jenen, die wir von ihrem vertrieben haben. Europäer ist, wer es sein will. Die Europäische Republik ist der erste Schritt auf dem Weg zur globalen Demokratie.“ Das ist eine Orwellsche Sprachverkehrung pur. Gewiß, Nationalstaaten sind historische Gebilde und unterliegen als solche der Vergänglichkeit. Sie bilden aber nach wie vor und auf absehbare Zeit ein unverzichtbares Organisationsprinzip. Wer sie per Federstrich oder durch einen evolutionären Putsch der Bürokraten entmachtet, erschafft damit keinen europäischen Demos, sondern haltlose Massen ohne Struktur, die um so leichter beherrschbar sind.

Genau darauf soll es hinauslaufen und Brüssel durchregieren. In der 2012 erschienenen Streitschaft „Der Europäische Landbote“ war Menasse schon sehr deutlich geworden. Man müsse sich mit dem Gedanken anfreunden, „die Demokratie erst einmal zu vergessen, ihre Institutionen abzuschaffen, soweit sie nationale Institutionen sind, und dieses Modell einer Demokratie, das uns so heilig und wertvoll erscheint, weil es uns vertraut ist, dem Untergang zu weihen. Wir müssen stoßen, was ohnehin fallen wird, wenn das europäische Projekt gelingt. Wir müssen dieses letzte Tabu der aufgeklärten Gesellschaften brechen, daß unsere Demokratie ein heiliges Gut ist.“ Würde das ein AfD-Mann sagen, stünde am nächsten Tag der Verfassungsschutz vor der Haustür.

Was bedeutet die „globale Demokratie“ für die „Europäische Republik“? In Le Monde Diplomatique forderten Menasse und Guérot, Migranten in Europa eigene Städte errichten zu lassen. „So entstehen Neu-Damaskus und Neu-Aleppo, Neu- Madaya (...). Oder auch Neu-Diyarbakir oder Neu-Erbil und Neu-Dohuk für die kurdischen Flüchtlinge. Vielleicht auch Neu-Kandahar oder Neu-Kundus für die afghanischen Flüchtlinge oder Neu- Enugu oder Neu-Ondo für die nigerianischen Flüchtlinge.“ Laßt im alten Europa tausend junge Dritte-Welt-Favelas blühen und es zu deren Beutegesellschaft machen. Solche hybriden und gemeingefährlichen Phantasien sind vernünftig nicht begründbar. Um sie zu legitimieren, bedarf es einer exzeptionellen, einer zivilreligiös angehauchten Letzt-Begründung. Zu diesem Zweck wird Auschwitz als EU-Gründungsmythos herbeizitiert. „In Auschwitz muß die neue europäische Hauptstadt entstehen (...). ‘Nie wieder Auschwitz’ ist das Fundament, auf dem das Europäische Einigungswerk errichtet wurde“, heißt es in Manesses preisgekröntem Roman „Die Hauptstadt“ (JF 43/17). „Die Überwindung des Nationalgefühls. Wir sind die Hüter dieser Idee! Und unsere Zeugen sind die Überlebenden von Auschwitz!“ Das sind zwar Zitate aus einer literarischen Fiktion Menasses. Doch ausweislich seiner nicht-fiktiven Texte meint er das im Ernst.

In der politisch-medialen Filterblase ist er damit eher die Regel als die Ausnahme. Jede Erinnerung ist selektiv, und jede Interpretation der Geschichte ist bewußt oder unbewußt interessengeleitet. Das Besondere besteht hier darin, daß sie in einen imperativen politischen Mythos transformiert werden, der in einem weiteren Schritt in den politischen Wahnsinn und perspektivisch zur Selbstauslöschung Europas führt. Menasse und seine Gesinnungsfreunde sind deswegen keine bösen Menschen. Sie sind bloß Kinder ihrer Zeit, einer Endzeit offenbar. Um innerhalb des allgemeinen Relativismus überhaupt noch Ordnungs- und Herrschaftsstrukturen zu organisieren, wird, wie der Sozialphilosoph Peter Furth dargelegt hat, der Holocaust als das „Sacrum“ in den Mittelpunkt der Gesellschaft gerückt: als „Heiligtum, das aus allen Sinnkrisen und Sinnruinen des Jahrhunderts“ und „über den Nihilismus der Postmoderne“ herausragt. Die „Holocaustschuld ist Grundlage einer letzten, der verstiegensten Citoyenromantik“.

Hier schließt sich der Kreis des politischen Romantikers Robert Menasse. Für Novalis war die Romantik ein Konzept, um die disparate und entfremdete Welt wieder zu ordnen und sich anzueignen: „Die Welt muß romantisiert werden. So findet man den ursprünglichen Sinn wieder. Romantisieren ist nichts als eine qualitative Potenzierung. Das niedre Selbst wird mit einem bessern Selbst in dieser Operation identifiziert. (…) Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.“

Sogar das „niedere Selbst“ mediokrer Politiker und das „Gemeine“ (vulgo: die prätentiösen Dummheiten) eines Robert Menasse scheinen einen „hohen Sinn“ zu erhalten, wenn sie sich auf „Auschwitz“ berufen. Der Romantiker Joseph von Eichendorff hat es gewußt: „Schläft ein Lied in allen Dingen / die da träumen fort und fort, / und die Welt hebt an zu singen, / triffst du nur das Zauberwort.“ Doch es gibt den entscheidenden Unterschied: Die Fiktionen der romantischen Literatur sind tatsächlich erhebend, während die politische Romantik längst als fauler, ja als lebensgefährlicher Zauber überführt ist. Wie gut, daß einer ihrer lautesten Trompeter jetzt öffentlich ins Straucheln gekommen ist.