© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 03/19 / 11. Januar 2019

Unter Berufung auf eine höhere Moral
Restitution: Eine Dokumentation zeichnet die Rückgabe eines Gemäldes von Ernst Ludwig Kirchner nach
Jürgen W. Schmidt

Im Sommer 2006 wurde ein Schlüsselwerk des deutschen Expressionismus, die „Berliner Straßenszene“ von Ernst Ludwig Kirchner, im Berliner Brücke-Museum an die Erben des Vorbesitzers, des 1931 verstorbenen Schuhfabrikanten Alfred Hess, zurückgegeben. Dessen Enkelin Anita Halpin und die von ihr beauftragte Berliner Rechtsanwaltskanzlei Schink & Studzinski hatten die Restitution des Gemäldes beim Berliner Senat durchgesetzt, weil es aus ehemals jüdischem Besitz vorgeblich verfolgungsbedingt 1936 veräußert worden war.

Der damalige Berliner Kultursenator Thomas Flierl (Linkspartei) und insbesondere dessen Staatssekretärin Barbara Kisseler hatten seinerzeit in Geheimverhandlungen mit der Erbin und deren Rechtsanwälten eilfertig und unter Verzicht auf eigene Nachforschungen die Argumentationslinie von Anita Halpin und deren Beauftragten übernommen. Barbara Kisseler wehrte sich späterhin gegen die ihr zugeschriebene Aussage, sie sei „froh und stolz, bereits beim ersten Treffen mit der Erbin die Herausgabe des Kirchner-Gemäldes zugesagt zu haben“.

Zweifel an Zwangsverkauf 1936 

Wie in dem von Rechtsanwalt Ludwig von Pufendorf herausgegebenen Buch dokumentiert, trafen viele Behauptungen der Erbin nicht zu. So war der einstige Besitzer des Gemäldes, Alfred Hess, bereits 1931 in finanzielle Schwiertigkeiten geraten, und dessen Erben begannen ab 1932 Kunstgegenstände aus seinem Nachlaß zu veräußern. Das betreffende Gemälde wurde 1936 in Köln keinesfalls „unter Wert“ veräußert, und für die behauptete Nichtzahlung des Kaufpreises gab es keine triftigen Beweise. Der Vater der das Gemälde beanspruchenden Anita Halpin hatte zudem 1961 Wiedergutmachungsleistungen aus Deutschland bezogen und in diesem Zusammenhang eventuellen Ansprüchen aus dem Besitz der Kunstsammlung seines verstorbenen Vaters Alfred Hess entsagt.

Trotzdem verzichtete das Land Berlin in diesem strittigen Falle unverständlicherweise darauf, die extra für solche strittigen Restitutionsfälle eingerichtete Limbach-Kommission anzurufen. Das Kirchner-Gemälde wurde derart schnell restituiert, daß es nicht einmal gelang, bei Sponsoren Gelder aufzutreiben, um – wie in ähnlichen Fällen – das Gemälde von der Erbin zurückzukaufen. Am 28. August 2006 kam der Skandal um das Kirchner-Gemälde im Kulturausschuß des Berliner Abgeordnetenhauses zur Sprache, und der SPD-Abgeordnete Torsten Hilse konstatierte: „Wir Berliner waren in einer starken Rechtsposition. Es gab keinen Anspruch. Eine stärkere Position konnte man nicht haben …“

In den beiden Buchbeiträgen „Restitution von Kunstwerken – Eine endlose Geschichte ?“ sowie „Kunstrestitution – und was daraus zu lernen ist“ stellen der Kunstexperte und Jurist Peter Raue sowie der auf Restitutionsfragen spezialisierte pensionierte Verwaltungsrichter Friedrich Kiechle fest, daß bis etwa 1990 in Rückgabeverhandlungen von Kunstwerken klar auf Grundlage des Zivilrechts entschieden wurde, wobei es definierte Fristen und Beweislasten zu beachten galt. Danach entwickelte sich bezüglich von Kunstwerken eine Art von Sonderrecht, das in der „Washingtoner Erklärung“ von 1998 Ausdruck fand. Völkerrechtlich hat diese Erklärung zwar keinerlei Bedeutung, aber sie beinhaltet einen moralischen Appell, der in Deutschland häufig genug erhört wurde, obwohl er „keinerlei gerichtlich überprüfbaren oder durchsetzbaren Gehalt“ besitze.

Zudem kam es im Vergleich zur Zivilgesetzlichkeit zu einer Art von Beweislastumkehr. Nicht der Anspruchsteller mußte seine Behauptungen lückenlos beweisen, sondern der (häufig gutgläubige) Besitzer des Kunstwerkes, was in einem Zeitabstand von mehr als 70 Jahren zunehmend gravierende Beweisprobleme mit sich bringt. Friedrich Kiechle weist auf den Umstand hin, daß eine derartige Praxis nicht mehr vom Recht gesteuert ist, sondern von der Berufung auf eine höhere Moral.

Ähnliche Verweise auf eine höhere Moral, welche den gesetzlichen Gegebenheiten im Zweifel übergeordnet ist, zeichnen indessen Deutschland zunehmend aus. Kiechle  deutet hier auf die Handlungen der Exekutive im Falle der Kernkraftnutzung, der Aussetzung der Wehrpflicht beziehungsweise der Handhabung der Flüchtlingskrise 2015/2016 hin. In einer Besprechung des Buches in der FAZ vom 23. November 2018 meinte die Rezensentin Rose-Maria Gropp deswegen, daß „unser aller Kulturgut (…) nicht aus falsch verstandenem guten Willen unter Druck einfach losgelassen werden darf“.

Doch genau derselbe Irrweg wird aktuell gerade bei dem bevorstehenden Kehraus in deutschen Museen, gemeint ist die massenhafte Rückgabe von Exponaten an afrikanische Staaten, beschritten. 

Ludwig von Pufendorf (Hrsg.): Erworben. Besessen. Vertan. Dokumentation zur Restitution von Ernst Ludwig Kirchners „Berliner Straßenszene“. Kerber Verlag, Bielefeld 2018, gebunden, 246 Seiten, 45 Euro