© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 03/19 / 11. Januar 2019

Die Republik in Gefahr: Zur Verteidigung von Demokratie und Wissenschaft in Frankreich
Die böse Saat geht auf
Egon Flaig

In Frankreich tobt ein Kulturkrieg. Die ehemalige Linke ist in lauter identitäre Strömungen zerbrochen: Homosexuelle, Feministinnen, Altlinke stehen plötzlich nicht mehr an vorderster Front der „Befreiung“, sondern sie werden nun selber beschuldigt und attackiert von Strömungen, die unter der Parole der „Dekolonisation“ alles bekämpfen, was als „weiß“ gilt.

Das war vorherzusehen. Als die Linke in den siebziger Jahren ihre internationalistische Orientierung verlor, um im Kampf gegen den globalen Imperialismus zunehmend die kulturellen Besonderheiten hochzuhalten, gab sie jene universalistischen Maßstäbe preis, aus denen sie hätte Argumente schöpfen können, um unerträgliche kulturelle Besonderheiten zu kritisieren. So sind Feministinnen allmählich in die Ausweglosigkeit geraten, die islamische Frauenunterdrückung gutheißen zu müssen, weil diese kulturelle Besonderheit ein widerständiges Element gegen den imperialistischen Westen sei: Judith Butler bietet dafür ein makabres Beispiel.

Die Entwicklung ist inzwischen weitergegangen. In den französischen Banlieues sind regelrechte arabo-islamische Parallelgesellschaften mit No-go-Areas entstanden, die sich den Gesetzen der Republik nur noch zwangsweise fügen. Unterdessen erstehen in der Medienszene ebenso wie in den akademischen Milieus intellektuelle Fürsprecher der religiösen und rassischen Segregation. Diese Ideologen verhöhnen systematisch die Grundwerte einer demokratischen Republik und bekämpfen diese als „Ideen der weißen Vorherrschaft“. Insbesondere verlangen sie „historische Gerechtigkeit“ für erlittenes Unrecht während der Kolonialzeit, wobei sie sich Vergangenheiten zulegen, die mit der historischen Wirklichkeit nichts zu tun haben und auf hysterische Weise leugnen, in welchem Ausmaß dort Sklaverei mit unablässigen Versklavungskriegen herrschte, die nur von der Kolonialmacht beseitigt wurde. Mit solcher Geschichtsklitterung glauben sie sich berechtigt, unentwegt Kompensationen und Privilegien zu fordern.

Zahllose Initiativen, die sich oft als „Indigene“ bezeichnen, agieren im akademischen, medialen und kulturschaffenden Milieu, am heftigsten die „Parti des Indigènes de la République“. Sie mobilisieren gegen den „Imperialismus der Schwulen“ und gegen den „weißen Feminismus“, welcher ihnen seine Weltsicht aufzwingen will – „gegen unsere Familien und unsere Stadtviertel“. In Lyon verlangt ein „Collectif décolonial“, den Begriff „Fortschritt“ aufzugeben, „weil er für die Nicht-Weißen sinnlos ist“. Europäische Traditionen, liberale Kultur, menschenrechtlicher Universalismus, demokratische Diskussionskultur und wissenschaftliche Rationalität – das sind allesamt Ausgeburten einer diskriminierenden, islamophoben und rassistischen Unterdrückung, gegen welche sich die „Nicht-Weißen“ erheben sollen.

Als Feministinnen 2016 zweimal Veranstaltungen abhielten, aus denen Weiße ausgeschlossen waren, hagelte es noch Proteste. Doch im Frühjahr 2018 brach der Damm. Am 23. April 2018 kam es zu Großveranstaltungen mit „nicht-gemischter Teilnahme“ an den Pariser Universitäten Nanterre und Saint-Denis. In Nanterre agitierten die Aktivisten gegen die „Ausbreitung der Homosexualität als Form politischer Identität“ und als „neokoloniales Verhalten des Westens“; die Taktik der rassischen Segregation müsse diesen Trend stoppen. Freilich sei die Segregation nur der erste Schritt zur Dominanz auf rassischer Basis: Es gelte, innerhalb der „Protestbewegungen“ den Weißen die Kontrolle zu entziehen und sie anzuleiten; das hat der Aktivist Max Fraisier-Roux in seinem Schlußwort offen ausgesprochen.

Etwa 15 Kilometer entfernt, an der Universität Saint-Denis – im überwiegend muslimischen Norden von Paris – fand am selben Tag eine Versammlung der „Gemeinsamen Front der Fakultäten gegen die Selektion“ statt. Deren Aktivisten diffamieren sämtliche Erfordernisse, nachweisbare Studienleistungen zu erbringen, insbesondere in den geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern als „Selektion“; und sie verschreien das Studium der großen klassischen Texte als europäischen Elitismus. Auf dieser „rassisch nicht-gemischten“ Versammlung gründete sich eine neue Organisation namens „Antirassistische Volks-Gegenwehr“ (RAP); die Sprecherin verlas das Gründungsdokument und endete mit den Worten „Wir antirassistischen Studenten bemächtigen uns der Nicht-Mischung als eines Werkzeugs der politischen Organisation (...) Die einzigen, die sich ausgeschlossen fühlen durch unsere Worte, sind unsere politischen Feinde!“ Danach sprach sie auf arabisch weiter, unter dem Beifall der Zuhörer.

Diese Feinderklärung an die ausgeschlossenen Weißen indiziert das Klima, in dem die Dozenten von Saint-Denis (Paris-VIII) zu lehren haben. Den „dekolonialen“ Aktivisten ist es partiell gelungen, die französische Gesellschaft in Rassen auseinanderzudividieren. Islamistische Strömungen schmieden Einheitsfronten gegen die „weiße französische Kultur“, schaffen Bewegungen, die französische Araber und Schwarzafrikaner vereinen, obschon letztere zu einem substantiellen Teil keine Muslime, sondern Christen sind. Die „linken“ antirassistischen Organisationen, wie zum Beispiel SOS Racisme, kollabieren, weil sie sich rassisch spalten.

Erinnern wir uns: 1948 hatte Jean-Paul Sartre in seinem Aufsatz „Orphée noir“ einen „antirassistischen Rassismus“ befürwortet – als Mittel, um zu einer „rassenlosen Gesellschaft“ zu gelangen. Daraus machte Frantz Fanon 1961 in seinem Buch „Die Verdammten dieser Erde“ ein Programm zur Unterwerfung Europas und der weißen Rasse, deren Ausgeburt die verhaßte europäische Kultur sei. Heute geht diese Saat auf – just an den westlichen Universitäten.

In Deutschland hat man fast nicht wahrgenommen, welche Verwüstungen diese Aktionen inzwischen an den Universitäten und im Kulturbetrieb unseres Nachbarn angerichtet haben. Statt dessen wird systematisch verharmlost. Der Feuilletonist Patrick Bahners hat es in der FAZ vom 25. Mai 2016 begrüßt, daß die ehemalige Justizministerin Christiane Taubira „Maßnahmen der inneren Dekolonisierung“ forcierte. Nach ihr ist ein Memorialgesetz benannt, das den europäischen Sklavenhandel zu einem „Verbrechen gegen die Menschheit“ stempelt, nicht aber den viel umfangreicheren islamischen. Daß diese ungleiche Schuldzuweisung geradewegs in einen Rassismus neuer Art führen mußte, hat den Journalisten nicht gekümmert.

Anders als in den USA und in Großbritannien haben französische Intellektuelle auf breiter Front begonnen, gegen diese Zerstörung der republikanischen Werte aufzustehen. In drei Manifesten ist dieser Protest vergangenes Jahr zu Wort gekommen. Zunächst veröffentlichte der Figaro am 20. März 2018 ein Manifest von 100 Intellektuellen unter der Überschrift „Nein zum islamistischen Separatismus“. Die Unterzeichner geißeln darin den „neuen islamistischen Totalitarismus“. Es folgte am 21. April im Le Parisien Dimanche das Manifest „Gegen den neuen Antisemitismus“. Die 100 prominenten Unterzeichner prangern den unter den Muslimen grassierenden Antisemitismus an, der immer gewaltsamer wird, inzwischen ganze Stadtviertel ethnisch gesäubert und über 50.000 Juden zum Wohnungswechsel in Paris und eine ebenso große Zahl zum Auswandern aus Frankreich veranlaßt hat. Mit beiden Manifesten hat ein wachsender Teil des französischen Geisteslebens den politischen Islam als gefährlichsten Feind der französischen Demokratie benannt – in aller Öffentlichkeit und mit eigenem Namen. Das dritte Manifest erschien am 28. November in Le Point und nennt sich „Appell der 80“. Darin appellieren prominente Franzosen an Behörden und Institute, vorzugehen gegen die Zerstörung der freien Debatte und der intellektuellen Standards. Nachstehend ist er zu lesen.






Prof. em. Dr. Egon Flaig, Jahrgang 1949, lehrte zunächst in Freiburg und Göttingen, war am Max-Planck-Institut für Geschichte tätig und hatte eine Gastprofessur am Collège de France bei Pierre Bourdieu inne. Der renommierte Publizist und Historiker war ab 1998 an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität in Greifswald und von 2008 bis zu seiner Emeritierung 2014 an der Universität Rostock Ordinarius für Alte Geschichte.





„Appell der Achtzig“ – das Manifest von 80 französischen Intellektuellen

Im Rhythmus von mehreren universitären und kulturellen Veranstaltungen pro Monat multiplizieren sich die militanten Initiativen, die forciert werden von der „dekolonialen“ Bewegung und ihren assoziierten Schaltstellen. Man empfängt diese vielfältigen Gruppen in den prestigereichsten universitären Einrichtungen, in Schauspielsälen und Museen. So etwa beim Seminar „Gender, Nation und Laizität“, abgehalten im Maison des Sciences de l’Homme Anfang Oktober: Die Präsentation dieses Seminars strotzt von rassischen Bezügen: „Gender-Kolonialität“, „Weißer Feminismus“, „Rassenzuschreibung“, „Gegenderte Rassenmacht“ (soll heißen: die Macht, welche die „Weißen“ systematisch und vorsätzlich auf Individuen ausüben, die man „rassisch markiert“ hat).

Obschon diese Bewegungen so tun, als seien sie fortschrittlich (antirassistisch, dekolonialistisch, feministisch ...), bemühen sie sich seit Jahren, die Kämpfe für die individuelle Emanzipation und die Freiheit umzulenken auf Ziele, die dem entgegengesetzt sind und den republikanischen Universalismus frontal angreifen: Rassenzuschreibung, Differenzkult, Segregationismus (entlang der Hautfarbe, des Geschlechts und der Religion). Sie berufen sich auf den Feminismus, um das Schleiertragen zu rechtfertigen, auf die Laizität, um religiöse Forderungen zu stellen und auf den Universalismus, um den Kommunitarismus zu rechtfertigen.

Und schließlich denunzieren sie entgegen aller Evidenz den „staatlichen Rassismus“, der angeblich in Frankreich wütet: in einem Staat, von dem sie im selben Atemzug Wohltaten und öffentliche Unterstützung verlangen – und diese auch noch erhalten. Die Strategie der „dekolonialen“ Aktivisten und der mit ihnen sympathisierenden Schaltstellen besteht darin, ihre Ideologie als wissenschaftliche Wahrheit auszugeben; sie diskreditieren ihre Gegner, indem sie diese des Rassismus und der Islamophobie beschuldigen. Daher weigern sie sich meist, sich auf kontroverse Debatten einzulassen, ja sie verteufeln solche Debatten. Daher gebrauchen sie Methoden des intellektuellen Terrorismus, welcher uns daran erinnert, was der Stalinismus sogar bei den hellsichtigsten europäischen Intellektuellen anrichtete – vor nicht allzu langer Zeit.

Nachdem sie auf diese Weise versucht haben, Scherbengerichte zu veranstalten über Historiker (Olivier Pétré-Grenouilleau, Virginie Chaillou-Atrous, Sylvain Gouguenheim, Georges Bensoussan), über Philosophen (Marcel Gauchet, Pierre-André Taguieff), über Politikwissenschaftler (Laurent Bouvet, Josepha Laroche), über Soziologen (Nathalie Heinich, Stéphane Dorin), über Geographen und Demographen (Michèle Tribalat, Christophe Guilluy) sowie über Schriftsteller und Essayisten (Kamel Daoud, Pacal Bruckner, Mohamad Louizi), beginnen sie nun Fachleute der Literatur und des Theaters zu diffamieren, so Alexandre Gefen und Isabelle Barbéris. Auf dem kulturellen Gebiet zielt die Hetze auf einige der anerkanntesten Künstler, um sie abzustrafen dafür, daß sie sich für den Universalismus aussprechen und den Diversitätswahn und die Rassenabsonderung kritisiert haben.

Es ist die bewährte Taktik: Diese „nichtkonformen“ Intellektuellen werden regelrecht überwacht von den Feinden der offenen Debatte, welche auf den geringsten Vorwand lauern, um sie zu isolieren und zu diskreditieren. Ihre Ideen werden ertränkt in diffamierender Polemik: Man reißt ihre Aussagen aus dem Zusammenhang, man klebt ihnen schändliche Etiketten auf den Rücken (Zugehörigkeit zur extremen Rechten, „Phobien“ aller Art), teils mit Petitionen, teils mit Beihilfe der Medien – mit dem Ziel, sie auf eine Anklage wegen Rassismus festzunageln ... Diese „Gegenaufklärer“ belästigen mittels der sozialen Netze und verbreiten Verleumdungen; parallel dazu überschwemmen sie mit ihren Anschuldigungen die Gerichte der Republik. Unsere kulturellen, universitären und wissenschaftlichen Institutionen – ganz zu schweigen von den schwer betroffenen Gymnasien und Kollegien – sind Zielscheiben geworden für Angriffe, die vorgeben, Diskriminierungen „kolonialen Ursprungs“ anzuprangern. Diese Angriffe zielen darauf, die Prinzipien von Meinungsfreiheit und Universalität zu unterminieren – Prinzipien, die wir von der Aufklärung geerbt haben. „Dekoloniale“ Kolloquien, Ausstellungen, Schauspiele, Filme und Bücher reaktivieren die Idee der „Rasse“; sie beuten unaufhörlich Schuldgefühle der einen aus und heizen das Ressentiment der anderen an; sie schüren den interethnischen Haß und die Spaltungen. Eben in diese Perspektive fügt sich die Strategie des „Entrismus“ (des Eindringens) „dekolonialistischer“ Aktivisten in die Anstalten der höheren Bildung (Universitäten, Hochschulen der Lehrerausbildung, nationale Journalismusschulen) und der Kultur.

Die Situation ist alarmierend. Der intellektuelle Pluralismus, den die Chorsänger des „Dekolonialismus“ zu neutralisieren bestrebt sind, ist eine wesentliche Bedingung für das gute Funktionieren unserer Demokratie. Die Aufnahme dieser Ideologie in der Universität erfolgt um den Preis, daß wir auf mehrhundertjährige Qualitätsstandards verzichten sollen, denen die Universität ihr Prestige verdankt.

Wir appellieren an die öffentlichen Behörden, an die Verantwortlichen der kulturellen, universitären, wissenschaftlichen Einrichtungen und Forschungsanstalten, aber auch an die Ämter, den verlorenen Zustand wiederherzustellen. Die elementaren Kriterien der Wissenschaftlichkeit müssen respektiert werden. Die Debatten müssen kontrovers sein. Die Behörden und Institutionen, für die sie verantwortlich sind, dürfen nicht gegen die Republik mißbraucht werden. Es obliegt ihnen – allen im Ganzen und jedem einzelnen – so zu handeln, daß diese Umfunktionierung zur Gänze aufhöre; denn sie ist unserer Werte unwürdig, unwürdig der Freiheit, der Gleichheit und der Brüderlichkeit. Und diese Werte sind das Fundament unserer Demokratie.

Die in Deutschland bekanntesten der 80 Unterzeichner:

Pierre Nora, Historiker und Miglied der Académie Française

Alain Finkielkraut, Philosoph und Mitglied der Académie Française

Elisabeth Badinter, Philosophin

Jean-Louis Fabiani, Soziologe (EHESS)

Anne-Marie Le Pourhiet, Professorin für Öffentliches Recht

Boualem Sansal, Schriftsteller

Jacques de Saint-Victor, Juraprofessor und Literaturkritiker