© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 03/19 / 11. Januar 2019

Ein Kaiser als Vollender der Revolution
Adam Zamoyskis neue Napoleon-Biographie sucht nach dem „Mann hinter dem Mythos“
Dag Krienen

Wenige Jahre nach dem Ende der Napoleonischen Kriege verfaßte Heinrich Heine ein Gedicht über zwei französische Grenadiere, die nach der Entlassung aus der russischen Gefangenschaft von der endgültigen Niederlage Napoleons erfahren. Doch während einer der beiden mit der Bemerkung: „Das Lied ist aus“ sich nun um „Weib und Kind zu Haus“ kümmern will, braust der andere auf:

Was schert mich Weib, was schert mich Kind, /

Ich trag weit bess’res Verlangen; / 

Laß sie betteln gehen, wenn sie hungrig sind, / 

Mein Kaiser, mein Kaiser gefangen!

Der Aufstieg eines kleinen korsischen Grundbesitzers zum Kaiser der Franzosen und Herrn des kontinentalen Europas wäre ohne den – von ihm selbst aktiv gepflegten – Mythos Napoleon nicht möglich gewesen. Nicht ein politisches Programm, sondern der Ruf, der eine zu sein, der alles schafft, half ihm dabei, die vielfältigen und sich widersprechenden Hoffnungen und Bestrebungen unzähliger Zeitgenossen auf sich zu vereinen. Wie Joachim Fernau über den römischen Kaiser Augustus witzelte, schien auch Napoleon der Mann mit dem roten Telefon direkt zu den Göttern, dem Schicksal, der Geschichte zu sein, der „Weltgeist zu Pferde“ (Hegel).

Der polnischstämmige, US-amerikanische Schriftsteller und Historiker Adam Zamoyski will mit seiner fast zeitgleich auch in den USA, Großbritannien und den Niederlanden erschienenen neuen Napoleon-Biographie den „Mann hinter dem Mythos“ (so der englische und niederländische Untertitel) fassen. Das Ergebnis ist ein trotz seines Umfangs relativ gut lesbares Buch. Es will keine grundstürzenden Neuigkeiten aufdecken, zumal das Leben Napoleons und die Geschichte seiner Herrschaft ohnehin nahezu vollständig erforscht sind. Die Biographie richtet sich nicht an die Fachleute, sondern stellt, wie ein Rezensent im SWR2 bemerkte, „populärwissenschaftlich leichte Kost, aber seriös zubereitet“ dar.

Fortschritt gelinge „nur mit diktatorischen Mitteln“

Durch die chronologische Darstellungsweise und die Einteilung in viele kurze Kapitel kann der Leser Napoleons Entscheidungen und Taten konkret nachverfolgen. Doch hat dies seinen Preis. Die größeren politischen und militärischen Zusammenhänge und Hintergründe des Handelns seines Helden kann Zamoyski so nur en passant erläutern. Oft geschieht dies nur umrißhaft und holzschnittartig. Besonders die politischen Verhältnisse in Deutschland werden von ihm nur sehr knapp und teilweise auch ungenau angedeutet. So plätschert Napoleons Leben in gewisser Weise von Station zu Station vor sich hin, ohne daß alle Hintergründe und Ursachen in ihrer Bedeutung für den Leser wirklich greifbar werden.

Die Auflösung aller Institutionen des Ancien régime nach 1789 stellte die Grundbedingung für den Aufstieg des nach überkommenen Maßstäben nicht satisfaktionsfähigen Napoleone Buonaparte dar, der sich anfangs nicht entscheiden konnte, ob er der Sache Korsikas oder des größeren Frankreichs dienen sollte. Erst seit 1796 firmierte er als Napoleon Bonaparte. Der seit 1792 von der Republik geführte Krieg gegen halb Europa verhalf schließlich dem großen militärischen Talent zu einem kometenhaften Aufstieg auf dem Schlachtfeld. So wurde er schon in jungen Jahren zu jenem popular general, von dem Edmund Burke 1790 vorausgesagt hatte, daß ein solcher dermaleinst zum neuen Herrn des Landes werden würde.

Zamoyski zeigt, daß dabei nicht allein die militärische „Gloire“ Grundlage für den politischen Aufstieg Napoleons war. Nachdem es ihm gelungen war, den kontinentalen Hauptfeind Frankreichs, Österreich, 1797 erstmals zu einem Friedensschluß (Campo Formio) zu zwingen, schlüpfte er immer mehr in die Rolle desjenigen, der der durch die Wirren der Revolution und des Krieges in viele verfeindete Lager zerspaltenen, von allen Seiten bedrohten und allen politischen Lagern enttäuschten französischen Nation eben jene Ordnung und Sicherheit verschaffen würde, nach der sie so sehr verlangte. 

Napoleon war als „Kind der Aufklärung“ ursprünglich republikanisch gesinnt und den Lehren Rousseaus durchaus zugeneigt gewesen. Doch entwickelte er sich bald zu einem zynischen Realisten, der an die natürliche Güte des Menschen nicht mehr glaubte, wohl aber weiterhin „an den menschlichen Fortschritt, der durch eine bessere Organisation der Gesellschaft zu erreichen sei“. Eine solche konnte in seinen Augen „nur mit diktatorischen Mitteln“ realisiert werden. Durch seine Erfolge in Italien gewann er die Überzeugung, daß er, und er allein, dazu berufen sei, mit autoritären Mitteln eine stabile Ordnung zu schaffen, die die von der Revolution geschlagenen Wunden heilen, die verfeindeten Lager zusammenführen und den eigentlichen Zweck der Revolution realisieren konnte. Mit dem Militärputsch vom 18. Brumaire (9. November) 1799 verschaffte er sich faktisch die Alleinherrschaft, zunächst noch in republikanischer Verkleidung als Erster Konsul, ab 1804 als Kaiser der Franzosen. 

Er hat statt Franzosen lieber Deutsche geopfert

Mit Max Weber kann man im Falle Napoleons von „charismatischer Herrschaft“ sprechen, mit der für diese Herrschaftsform typischen Schwäche, größere politische Rückschläge, wie Bonaparte selbst erkannte, nicht überleben zu können. So konnte er nach der Niederlage in Rußland 1812 die durchaus ernstgemeinten Kompromißangebote seiner Gegner nicht annehmen. Daß die Niederwerfung Napoleons 1814 und 1815 nicht zur totalen Katastrophe für Frankreich wurde, lag nicht zuletzt daran, daß Napoleon zuvor während seiner Alleinherrschaft dem Land zu stabilen Institutionen verholfen hatte, die seinen Abgang überlebten, ja im entscheidenden Augenblick sogar erzwangen.

Der heutige französische Staat mag dem Kaiser immer noch vieles verdanken. Doch in anderen Teilen Europas war seine Herrschaft mit massiver Ausplünderung verbunden. Die Stabilität, die die französischen Einwohner seines Empire genossen, mußten die anderen Völker Europas teuer bezahlen, auch mit ihrem Blut. Gemäß den Erinnerungen Metternichs, der während des Waffenstillstandes von 1813 mit Napoleon über mögliche Friedensbedingungen verhandelte, bemerkte der Kaiser auf die Vorhaltung des Fürsten, daß weitere Kämpfe großen Teilen der Jugend Frankreichs den Tod bringen würden, ihn würde es als Soldaten wenig kümmern, „ob eine Million Mann zugrunde geht“. Und fügte dann, gleichsam entschuldigend, hinzu: „Die Franzosen können sich nicht über mich beklagen, um sie zu schonen, habe ich die Deutschen und die Polen geopfert. Ich habe im russischen Feldzug 300.000 Mann verloren. Es waren nur 30.000 Franzosen darunter.“

Napoleon war nicht jenes Ungeheuer, als das er in der Propaganda der Befreiungskriege geschildert wurde. Man muß ihm zugestehen, daß er kein bloßer „Großer Zerstörer“ wie manch anderer charismatischer Herrscher war, sondern lebensfähige staatliche und rechtliche Institutionen hinterließ. Das dürfte einer der wichtigsten Gründe dafür sein, daß Zamoyskis Urteil über Napoleon relativ positiv ausfällt. Zwar sei er kein Genie gewesen, aber auch kein „bösartiges Monstrum“, „der anderen mutwillig Leid zufügen wollte“. Im persönlichen Umgang meist freundlich, in der großen Gesellschaft zunächst unsicher, habe es ihm allerdings an Empathie gefehlt, das heißt an der Fähigkeit, sich in die Gefühlswelt anderer Menschen hineinzuversetzen. Das habe im Umgang mit den anderen Souveränen Europas zu verhängnisvollen Fehlurteilen geführt. Doch seien seine „Motive im großen und ganzen lobenswert“ gewesen. Ein solches Urteil berücksichtigt jedoch nicht, daß viel zu viele Europäer von 1797 bis 1815 aufgrund Napoleons skrupelloser Durchsetzung des „Guten“ und „Vernünftigen“ entsetzlich leiden und unzählige sterben mußten.

Adam Zamoyski: Napoleon. Ein Leben. Verlag C.H. Beck, München 2018, gebunden, 863 Seiten, Abbildungen, 29,95 Euro