© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 03/19 / 11. Januar 2019

Heroische Form der Leistungsverweigerung
Die höchst bürgerliche Betrachtung des Feuilletonisten Jens Jessen über den Adel
Matthias Matussek

Für die 68er war das abgelaufene 2018 ein Jubiläumsjahr, ein Schicksalsjahr ist es für den deutschen Adel, also für jene gesellschaftliche Schicht, die man durchaus als frühen Antipoden der egalitär gesinnten 68er begreifen kann: 1918 wurde aus dem feudalen Deutschen Reich eine Republik. Jens Jessen hat aus diesem Anlaß eine „bürgerliche Betrachtung“ angestellt unter dem Titel „Was vom Adel blieb“, und die kommt so funkelnd witzig und melancholisch und vergnüglich bösartig daher wie vieles aus der Feder dieses begnadeten Essayisten. 

Er beginnt mit einer verblüffenden Pointe: „Der Spiegel, den uns der Adel vorhält, ähnelt in gewisser Hinsicht dem Spiegel, den uns das Lumpenproletariat vorhält, das es aller Schönrednerei zum Trotz noch immer in Form dauerhaft erwerbsloser oder prekär beschäftigter Menschen gibt.“ Man könnte Jessen, der einst als Zeit-Feuilletonchef Lenin und einen röhrenden Hirsch über seinem Schreibtisch hängen hatte, als Salonstalinisten bezeichnen. Er liebt die gedankliche Unerbittlichkeit, den rhetorischen Extremismus.

In Adel und Lumpenprolet sieht er Existenzformen höchster Reinheit: Der Adlige hat seinen Status völlig unabhängig von Besitz und Leistung, während er dem Lumpenproletarier „erst durch ein dauerhaftes Leistungsminus bewußt wird: als ein Sockelbetrag, der wunderbarerweise nicht abgebucht werden kann“. Beide leben ihren Stand als pures Sein in einer Gesellschaft, die jeden nach seiner Verwertbarkeit mustert. „Im übrigen sollte aber auch der Stolz nicht unterschätzt werden“, fährt Jessen fort, „mit dem der Dauerarbeitslose, vielleicht noch im Unterhemd, aber schon mit einem Bier in der Hand, dem beschäftigten Teil der Gesellschaft gegenübertritt.“ Er wird den Sozialarbeiter oder besorgten Nachbarn, der ihn aus der Mittagsruhe scheucht, mit der „gleichen Kälte mustern wie in alten Zeiten der Aristokrat den Krämer, der verlegen den Hut knetend Außenstände eintreiben möchte“. Kurz: beide zeichnet die heroische Lebensform der Leistungsverweigerung aus. 

Der Adel besticht durch einen „gefrorenen Aggregatzustand“, durch die Konvention. Originelle Gedanken gelten als unfein. Nicht aber die Exzentrik in der adligen Familie. „Die rührende Amelie, sie hat nur die Flasche.“ Oder der hier: „Ja, sie ist wieder schwanger, wieder von dem Stallburschen. Nein, ich kann nicht sagen, ob es derselbe ist. Aber das Heu hat nun einmal diese Wirkung auf sie.“ Die adlige Großfamilie ist, so Jessen, der toleranteste und barmherzigste Raum, den es in beziehungsweise außerhalb unserer Gesellschaft gibt. Natürlich hält diese Familie, meist weitverzweigt, zusammen und sie kennt sich nur in den Außenstehenden unverständlichen Kosenamen, all diese Putzis und Mausis und Nickis, und sie lernen diese geheimnisvolle Vagheit schicklicher Konversation. 

Die Zentralvokabel ist „gemütlich“, denn meist ist man auch zu feierlichen Anlässen unter sich. Ein blutiger Unfall ist „überflüssig“, und daß das Opfer auch noch ein glanzvolles Fest versäumte „mehr als langweilig“. Wenn der Vater an Krebs stirbt: „Wie mühsam.“ Das „Schloßdeutsch“ ist von „aristokratisch gewollten Einschränkungen der geistigen Beweglichkeit“, eine Untüchtigkeit, die man sich leisten können muß.

Das geht nicht ohne Seitenhiebe gegen die Klasse der Intellektuellen, ihr gilt Jessens aufblitzender Spott. Der Intellektuelle macht den Adligen zum Gegenstand seiner Reflexion, um noch ein bißchen höher auf ihn herabzuschauen und damit eine Art nachgetragenen Klassenkampf führt – denn Intellektuelle, Leute mit Bildung, galten am Hof als amüsanter Zeitvertreib und konnten jederzeit mit einem Fußtritt nach außen befördert werden.

Entscheidend ist der „Gotha“, das Adelsregister, eine durchaus bürokratische Veranstaltung, die erst in der historischen Dämmerung des Adels vorgenommen wurde. Wer und wann zum Adel kam, ist durchaus lustig nachzulesen – Jakob I. von England vergab Ritterwürden an jeden, der 1.000 Pfund berappen konnte, Napoleon schuf ganze Fürstenhäuser aus verdienten Bürgerlichen wie das der Bernadotte, die heute die Könige Schwedens stellen, Lazarus Henckel von Donnersmarck wiederum, Ahnvater des deutschen Filmregisseurs, war Viehhändler, der sich um die Ostmarken kümmern sollte.

Als Anomalie in der vornehmen Geistfeindlichkeit der Aristokratie erwähnt Jessen den russischen Adel, der mit großen Erzählern wie Gontscharow und Tolstoi und Turgenjew, alle blauen Blutes, auch Dostojewski, einem verarmten Zweig entstammte.

Im Schlußkapitel „Das unverlierbare Erbe“ zieht Jessen eine melancholische und nachgerade anarchische Bilanz. Der Adel erinnert uns an eine Gesellschaftsform, die „das Selbstverständliche des Leistungsprinzips in Frage stellt, das heute zur Rechtfertigung neuer Ungleichheit und Ungerechtigkeit herangezogen wird“.

Jens Jessen: Was vom Adel blieb. Eine bürgerliche Betrachtung. Verlag zu Klampen, Springe 2018, gebunden, 100 Seiten, 14 Euro