© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 03/19 / 11. Januar 2019

Ein anständiger Händedruck tut es doch auch
Ein Kompendium der Verluste: Alexander Pscheras leise Klage über vergessene Gesten im bürgerlichen Alltag
Matthias Matussek

Zu den Verlusten, die wir auf dem Weg in eine sich „veloziferisch“ beschleunigende Moderne zu verzeichnen haben, gehören nicht nur das Bildungsbürgertum und ein den Stil bestimmender Adel, sondern auch Gesten, typische Handbewegungen, die das Gesagte unterstreichen, bisweilen sogar ersetzen können – wie in südlichen Ländern, wo ein Schaben mit dem Zeigefinger unter dem Unterkiefer Gleichgültigkeit ausdrücken kann, oder die nach oben wippende ringförmig geschlossene Handfläche Verachtung signalisiert, wie Martin Mosebach in einem einsichtsvollen Vorwort schreibt.

Wo die Öffentlichkeit zunehmend vor dem Computerbildschirm stattfindet und Begegnung in einem virtuellen Raum, wo also Kommunikation auf Zeichen und Emojis beschränkt wird wie in einem Morsealphabet von sozial havarierten Individuen, entfällt das reiche Repertoire an mimischer und gestischer Begleitmusik. Heute lupft keiner mehr den Hut zum Gruß, eine Nelke steckt sich kaum noch einer ins Knopfloch, wir sind in das anonymisierte Zeitalter der Umstandlosigkeit eingetreten.

Alexander Pschera hat sich auf die ethnologische Suche nach gerade noch erinnerten Zeichen, Gesten und Sitten gemacht, 125 sind zusammengekommen, die er im Untertitel „125 Volten gegen den Zeitgeist“ nennt.

Whiskey im Büro trinken und auf die Stirn küssen

Ein wundervolles Büchlein und ein Kompendium der Verluste. „Einem Herrn die Hand schütteln“ zum Beispiel gilt in einer Zeit, in der jeder dem anderen um den Hals fällt und Dreitagebärte aneinander reiben, als nahezu verlegen machende Steifheit. Oder der Gebrauch des Wortes „eigentlich“, der sich jedem aufgeklärten Zeitgenossen verbietet, seit Adorno mit seinem Essay über den „Jargon der Eigentlichkeit“ Heidegger aufs Korn nahm – wegen seiner (selbstverständlich faschismusverdächtigen) Manierismen – ohne im übrigen darauf zu reflektierten, daß er selber mit dem nachgesetzten Reflexivpronomen des Manierismus sich schuldig zu machen pflegte. 

Ja, die Bräuche vergangener Alltage: dahin, ins Kosmopolitentum verschwunden, also die neu tribalistischen Konsum-Gemeinden wie „Starbucks“ oder „Nike“, oder in die heraufdämmernde neue Sittenwelt des Islam. Etwa „Toast Hawaii“ zubereiten oder „den Freischwimmer absolvieren“. Beide nicht mehr halal, sozusagen, denn der Toast Hawaii kommt nicht ohne Schinken aus, während der geschlechterübergreifende Freischwimmer ganz aus unseren Badeanstalten verschwinden wird. 

Dagegen sind „Ohrfeigen verteilen“ oder „sich duellieren“ durchaus kompatibel geworden in den neuen Welten der Gangs und Clans, während „Tagebuch schreiben“ sich eher für verkabelte Polizei-Denunzianten, im Sprachgebrauch also „Ratten“, eignet. „Mit dem Schiff reisen“ kommt durchaus wieder in Mode, seit es Kreuzer gibt, die komplette Kleinstädte transportieren können, mit Diskos und Schwimmbädern im Angebot, und die bisweilen in der Lagunenstadt Venedig wie turmhohe Monster anlegen und für verheerenden Wasserdruck auf die Fundamente sorgen, und das für Besichtigungstouren von dreistündiger Dauer. 

Nur noch in nostalgischen TV-Serien wie „Mad Men“ ist die Sitte „im Büro einen Whiskey trinken“ zu besichtigen, nur in der großen Familientrilogie „Der Pate“ werden Vorgänge ins Gedächtnis gehoben wie „jemanden auf die Stirn küssen“, aber auch „mit gefalteten Händen beten“, „einen Diener machen“.  Auch schön, und im Gesundheitsrummel leider verlorengegangen: „Einer Dame Feuer geben“. 

Schließlich „sich auf den Tod vorbereiten“. Autor Pschera: „Früher bestand das Leben aus nichts anderem, auch wenn nicht unbedingt jeder Tag mit einer Schußwunde begann. Die Todesstunde war allgegenwärtig, sie war, so paradox es klingen mag, der Nabel des Lebens.“ Wir beten im Rosenkranz um den Schutz und die Fürbitten der Mutter Gottes, „jetzt und in der Stunde unseres Todes“, merkt Pschera an, obwohl beides nur einen Wimpernschlag trennt angesichts der Ewigkeit, aus der wir kommen, und in die wir wieder eingehen werden. 

Unsere Seinsvergessenheit und die Verdrängung der Tatsache, daß wir sterblich sind, führe dazu, daß sich selbst 85jährige von ihrer letzten Stunde überraschen lassen. Pschera empfiehlt Männern ab 50, Frauen ab 55 die tägliche mentale Übung, sich den eigenen Grabstein vorzustellen. „Tradition“, merkte Chesterton einst an, „ist Demokratie mit den Toten.“ Unser Weg in die Traditionslosigkeit könnte durchaus in einen neuen Totalitarismus führen, den des allzeitbereiten Konsums.

Allerdings tendiere ich im Moment dazu, mein Augenmerk auf eine andere verlorene schöne Sitte in diesem Katalog zu lenken, und ihr nachzutrauern, nämlich der Gewohnheit, „einen Diener zu beschäftigen“. Vielleicht bin ich da nicht alleine, denn was ist heutzutage die Anstellung einer Putzfrau anderes, als ein im Kleinbürgertum angekommener Rest dieser Adelssitte?

Alexander Pschera: Vergessene Gesten. 125 Volten gegen den Zeitgeist. DVB-Verlag, Wien 2018, gebunden, 186 Seiten, 22 Euro